Laubmann 1 - Der zerrissene Rosenkranz
Menschen das Gewissen als Korrektiv des eigenen Handelns überhaupt noch wahrnahmen oder inwieweit sie überhaupt noch, im Sinne einer geistigen Auseinandersetzung mit sich und mit der Welt, tiefergehend denken wollten.
Dachten die Menschen, die in seinen Vorlesungen saßen, wenigstens gelegentlich ganz frei über etwas nach, ohne Zweckgebundenheit? Eine Studentin etwa, die eine kirchliche Laufbahn anstrebt; ein Priesteramtskandidat, der jetzt schon auf einen festen Lebenslauf eingeschworen wird; eine ältere Gasthörerin, sonst Hausfrau und engagiert in der Kirchengemeinde, die im Hörsaal vielleicht nur eine höhere Art der Unterhaltung genießt, der Freizeitgestaltung? Ja, das war es, um was es überall ging:Werdegänge und Unterhaltung. ‹Und wir theologischen Forscher betreiben dies im Grunde mit. ›
Plötzlich schob sich Dr. Philipp Laubmann durch die hinausdrängenden Studenten nach vorne. Hanauer stand fein lächelnd neben dem Pult, wobei sich seine Fältchen noch einen Grad charmanter auf der straffen Gesichtshaut abzeichneten, und verabschiedete sich gerade von der Studentin, als Laubmann das Katheder seines Lehrers erreichte. Sie begrüßten sich sogar mit Handschlag, der Professor und sein Assistent. Hanauer stellte ständig unter Beweis, wie sehr ihm das Schicksal seines Assistenten am Herzen lag. Er respektierte seine Intelligenz und seine Forschungstätigkeiten, obwohl er sie nicht immer bis ins letzte nachvollziehen konnte. Auf jeden Fall achtete er ihn hoch. So tauschten sie beispielsweise ihre Texte untereinander aus, bevor sie veröffentlicht wurden.
Heute war Dr. Philipp Laubmann aber nicht in moraltheologischen Fachfragen zu Hanauer unterwegs. Er hatte ja in Absprache mit Kommissar Glaser die Aufgabe übernommen, seinen Chef über den Verlauf des Abends zu befragen, an dem Franziska Ruhland zu Tode gekommen war. Laubmann wollte ganz einfach mit Hilfe seines Professors das Alibi des Kollegen Konrad überprüfen, da er nicht zu dem von Konrad und Hanauer organisierten Gastvortrag hatte kommen können. Im nachhinein wäre es ihm lieber gewesen, er hätte damals selbst alle Personen im Hörsaal zu beobachten vermocht. Er war sich dessen gewiß, daß dies niemand so genau getan hätte wie er.
«Frau Professorin Schönfeldt, unsere Gastdozentin, wurde von mir allein aus dem Hotel abgeholt», gab Hanauer gleich auf die erste Frage Laubmanns zur Antwort. Daß er nun gleichsam verhört wurde und wichtige Aussagen zu einem möglichen Verbrechen machte, das wurde ihm bis auf weiteres nicht so recht bewußt. Laubmanns Fragen erschienen ihm relativ harmlos.
«Und wann haben Sie den Kollegen Konrad getroffen?» wollte Laubmann wissen.
«So gegen 20 Uhr sind wir hier in der Universität mit ihm zusammengetroffen. Die Veranstaltung sollte ausnahmsweise um 20 Uhr 30 beginnen, aber es ist wohl ein paar Minuten später geworden. Einige Nachzügler haben, wie immer, den Beginn verzögert. Bei denen kann man nie spät genug anfangen. Dabei hatte die Kollegin ja schon um einen zeitversetzten Anfang gebeten, weil sie an dem Tag noch eine andere Veranstaltung hatte und eine lange Fahrt bewältigen mußte.»
«Sie haben also zusammen mit Herrn Konrad und Frau Schönfeldt bis nach 20 Uhr 30 gewartet, um alle Zuhörer hereinzulassen?»
Hanauer nickte. «Anschließend, als dann endlich Ruhe eingekehrt war, habe ich als einer der Einladenden eine kurze Begrüßungsansprache gehalten und dabei die auswärtige Kollegin vorgestellt und verschiedene Aspekte des Themas angedeutet, die ja …»
«Verzeihen Sie, wenn ich unterbreche, mir geht es mehr um den äußeren Ablauf. Wann war denn der Gastvortrag zu Ende?»
«Da lassen Sie mich kurz nachdenken. Das muß um 22 Uhr gewesen sein, weil ich mir noch überlegt habe – die Kollegin hat nach den Begrüßungsworten mehr als eine Stunde vorgetragen –, ob das nicht zu viel sei. Wir wollten zum Abschluß wie in aller Regel die Möglichkeit einräumen, Fragen an sie zu richten. Der Vortrag war inhaltlich so dicht, daß wir vor der Diskussion aber eine zehnminütige Pause eingelegt haben.»
«Hat denn der Kollege Konrad auch Fragen gestellt?» «Der war gar nicht mehr anwesend. Der lange und sehr intensive Vortrag hatte ihn anscheinend so mitgenommen, daß ihm übel geworden ist; vielleicht war es auch bloß die schlechte Luft im Saal. Er war wieder überfüllt mit Studenten und vielen Freunden der Universität. Keiner wollte natürlich ein Fenster öffnen, weil immer
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