Laubmann 1 - Der zerrissene Rosenkranz
sondern dumpfer, lichtverschluckender und lichtverlassener. Die Konturen der Häuser verschwanden völlig. Der Mond war nur eine schmale Sichel, die meist von Wolken verdeckt wurde.
«In der Grube» lautete der Name der seit dem späten Mittelalter bezeugten Gasse, die eingegraben in die Altstadt einem Einschnitt zwischen zwei bebauten Hügeln folgte; «In der Grube» – genauso elend fühlte sich Erich Konrad, als würde nicht der Leichnam Franziskas bald in einer solchen enden, sondern sein Leib dem Verfall anheimgegeben werden. Ihm war, als sei er aus sich selbst herausgetreten, wie jemand, der neben dem Leben stand und sich bewegte, als sei er zu einem mechanischen Automaten degeneriert, einer hoffmannesken Gliederpuppe in maßgeschneiderten Gewändern täuschend ähnlich. Die Ausgeburt seines eigenen Alptraums.
Professor Konrad war noch immer nicht zur richtigen Trauer bereit; es war ihm unmöglich, auf den Grund des Schmerzes hinabzusteigen. Er akzeptierte die Härte der Todes-Situation nur in Verbindung mit seinem Selbstmitleid. Wie oft hatte er als Priester gegen das Sich-Gehenlassen in anonymen, abgestumpften Schuldgefühlen gewettert, die bloß alle schmerzlichen Einsichten verhinderten. Selbst betroffen aber, wollte er nicht und konnte er nicht seine eigenen Schuldgründe im Leben und in der praktizierten Religion betrachten. Er ließ mit sich geschehen, was offenbar zu geschehen hatte, mit sich – und mit Franziska, seiner Franziska, seiner fernen Franziska; schon so fernen Franziska. Und sein Gott schwieg beharrlich.
Der Professor war auf dem Nachhauseweg. Er hatte einen Diskussionsabend hinter sich, wie ihn Dozenten zuweilen auch außerhalb der Universität bei diversen katholischen Verbänden über sich ergehen lassen müssen. Diesmal hatte ihn die Landvolkbewegung zu einer Veranstaltung eingeladen, bei der er die schwierige Situation der Landwirtschaft mittels zentraler Aussagen der Christlichen Soziallehre kommentieren sollte. Aber die Probleme der anwesenden Bauern interessierten ihn nicht, weil ihn derzeit nichts interessierte, und um solche Podiumsveranstaltungen durchzustehen, hatte er Routine genug.
Er spuckte, was sonst nie vorkam, mitten auf das Kopfsteinpflaster – er mußte sich auf die Lippe gebissen haben, sein Speichel schmeckte nach Blut –, hielt also einen Moment inne, den Kopf leicht vorgebeugt und ein klein wenig zur Seite. Und nur in jener spontan eingenommenen Haltung konnte es geschehen, daß er ihn, den einen, aus seinen Augenwinkeln heraus registrierte, so daß er sich erschrocken zu ihm umdrehte. Der Fremde, der Unbekannte hatte sich wieder eingefunden und lauerte ihm auf. Ein fabelhaft günstiger Moment der Schwäche, geschickt ausgewählt, dachte sich Konrad mit bitterer Ironie. Er war allein, und wider Erwarten fanden sich keine neugierigen Gestalten hinter den Fensterscheiben. Der, der ihm nachstellte, war freilich gleich zurückgezuckt, als er sich entdeckt sah, verschwunden hinter einem der Mauervorsprünge, denn aus manchen der Häuser ragten Stützmauern abgeschrägt in die Straße. Wie ein Schattenmensch, der in der Schattenlosigkeit dieser Nacht aufging.
Die Augen des Professors erkannten nichts mehr in der Dunkelheit. Angstschweiß hatte sich gebildet, stand ihm auf der Stirn. Er hatte Schweiß immer als lästig empfunden; und in Gegenwart von Franziska hatte er sich deswegen oft geniert. Er wäre am liebsten weggelaufen, jetzt und hier, in dieser Situation, hin zu seiner Wohnung, davongehetzt, mit der Angst im Nacken, um sich einzuschließen. Er verfluchte die Welt.
Was wollte der bloß von ihm? Über diese Frage war Konrad bisher nicht hinausgekommen. Nicht die geringste Bewegung konnte er wahrnehmen. War diese Gestalt doch nicht mehr als eine pure Einbildung? Niemand, wirklich niemand außer ihm hatte sie sonst gesehen; und er fühlte das Mißtrauen, das ihm entgegengebracht wurde, wenn er davon berichtete. Sogar Laubmann hatte ihn ungläubig angeblickt. Sie alle dachten vermutlich, daß ihn Schuldgefühle dazu trieben, sich von einem Phantom verfolgt zu fühlen. Und war es nicht so? Hatte er seinen Verstand überhaupt noch im Griff?
Und mit einem Mal, er wußte selbst nicht, was ihn plötzlich gepackt hatte, ballte er die Hände zu Fäusten und ging voll angestautem Haß auf die Dunkelheit los. Seine Schritte wurden schneller. Er hatte jetzt ein Gefühl der Unentrinnbarkeit, ein Gefühl blinder Kraft, die alles und jeden hinwegfegen mochte. Wie auf
Weitere Kostenlose Bücher