Laubmann 1 - Der zerrissene Rosenkranz
machen Sie gerade?» «Ich nehme ein Bad.»
«In der Wanne? Da haben Sie sich den denkbar ungünstigsten Zeitpunkt rausgesucht.»
«Ich habe dienstfrei», sagte Lürmann, obwohl er sich immer im Dienst fühlte. «Wie sind Sie darauf gestoßen, daß sich Hüttenberger aus dem Staub gemacht hat?» Er ließ das Wasser ab.
«Ich wollte ihn zur Vernehmung laden, aber niemand weiß, wo er abgeblieben ist. Das erzähl ich Ihnen nachher genauer. Beeilen Sie sich bitte, ich könnte mir vorstellen, daß wir kurz vor der Lösung des Falls stehen.»
Der Kommissar klang siegessicher, und auch Lürmann packte das Aufklärungsfieber; obgleich sich beide natürlich nicht auskannten mit den Verhaltensweisen und Eingebungen eines religiös dermaßen durchdrungenen Menschen. Josef Maria Hüttenberger plagte sich bei einem Fußmarsch. Er setzte sich, nach Stunden des Gehens, einfach auf die Erde und zog die Schuhe aus. Seine Füße schmerzten, Blasen waren entstanden. Er hielt die Füße in einen Bach. Aber das Wasser des Baches war nach Hüttenbergers Meinung keine ausreichende Buße mehr; denn das Wasser tat den Füßen gut. Wenn es sich zumindest um einen eiskalten Bach gehandelt hätte. Dieser hingegen speiste sich aus einem Quellgebiet, das man an anderer Stelle sogar für ein Thermalbad nutzte. Er kam, was selten genug war, erwärmt aus den Tiefen des Erdmantels.
Und weil er das Baden der Füße nun doch nicht lassen konnte, steigerte sich Hüttenberger wenigstens geistig in eine Bußsituation hinein, damit das Wohltuende nicht zum Genuß würde. So redete er sich Ängstlichkeiten ein, bezogen auf die Lichtreflexe an der Oberfläche und irgendwelche Bewegungen im Wasser, als könnten diese von unbekannten, aber gefährlichen Wassertieren herrühren. Hatte er nicht in diesem Augenblick etwas Glitschiges, etwas Nesselndes an seiner Haut verspürt? Freilich schwammen allerlei Pflanzenteile an ihm vorbei, Gewächse streckten ihre Äste, Blätter, Stengel oder Halme vom Ufer her übers Wasser nach ihm aus.Alles wirkte so seltsam frisch, wie erstarrt, überraschend deutlich sichtbar durch die klare Luft; obgleich der Himmel lückenlos bedeckt war und schwere Wolken von Horizont zu Horizont jagten. Die Natur schien ihm unberechenbar.
Josef Maria war ein gequälter Mensch, der sich zu allem Überfluß selber die Schuld daran gab und überzeugt war, nur durch sich selbst auferlegte Bußhandlungen Friede in sich zu finden. Er vertauschte jedoch nur eine Qual mit der anderen und ließ sie sich gegenseitig potenzieren. Es gelang ihm nicht, sich von den mannigfachen Bedrängnissen zu befreien; und die Kirchenkreise, in denen er verkehrte, waren nicht dazu angetan, ihm helfend zur Seite zu stehen. Sie hatten sich eher der Qual verschrieben und begründeten dies mit dem Leiden Christi, obwohl der Kreuzestod Jesu im Sinne eines äußersten Mit-Leidens Gottes den Menschen doch aus seiner Pein erlösen sollte.
Schon sehr bald waren Josef Maria Hüttenberger die Eltern gestorben, und er hatte im Kindesalter keine andere Wahl, als bei einem Bruder seines Vaters mehr geduldet als geliebt aufzuwachsen. In sich verkrochen, war ihm die Schule nur ein bedrohlicher Raum und sein Werdegang ohne Perspektive. Erst als er mit 16 Jahren die Möglichkeit erhielt, auf ein kirchliches Gymnasium zu wechseln und ein priesterliches Leben ins Auge zu fassen, fühlte er einen Aufbruch in sich.
Nach dem Abitur hatte er, ohne auch nur einen Augenblick ein anderes Fach in Erwägung zu ziehen, Theologie studiert und war ins Priesterseminar eingetreten. Doch während er sein Studium zu Ende brachte, und nicht mal schlecht, wurde seine Laufbahn im Seminar jäh unterbrochen. Er wurde beurlaubt, einer seelischen Krise wegen. Es hatte ihm ungeheuere Schwierigkeiten bereitet, sich einzuordnen; nicht, weil er zu frei dachte, sondern weil er zu starr war in seinem Verhalten. Dies hatte in einer unglücklichen Zuspitzung zu einer Handgreiflichkeit gegenüber einem anderen Alumnus geführt, was die Seminarleitung nicht mehr tolerieren konnte. Eine Mitarbeit am Lehrstuhl für Dogmatik, seinem Studienschwerpunkt, bot einen Ausweg. Einer der Gründe, warum er sich zudem und zunehmend kirchlich-sektiererischen Bewegungen anschloß, Bewegungen also, die kirchlich zwar geduldet sind, Kirchlichkeit und Theologie jedoch nur sehr ausschnitthaft wahrnehmen, mag der Tod seiner einzigen Schwester vor wenigen Jahren gewesen sein. Im Missionsdienst tätig, war sie bei einem nicht
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