Laubmann 1 - Der zerrissene Rosenkranz
einen Moment Zeit hätten, mit ihm zu sprechen.»
«Ich hab auch daran gedacht. Ich geh gleich hinauf.» Laubmann war sofort die seltene Ausgabe einer theologischen Schrift eingefallen, die er schon länger bestellt hatte.Wahrscheinlich bat ihn der derzeitige Leiter der Bibliothek zu sich, weil es mit der Bestellung Schwierigkeiten gegeben hatte; oder er mußte ein gesondertes Formular unterschreiben, weil es sich bei dem Buch um ein außergewöhnlich wertvolles Exemplar handelte.
«Augenblick bitte, ich frag erst an, ob er gerade zu sprechen ist.» Sibylle Schmidt wählte eine Nummer auf dem Haustelefon und wartete einen Moment. Nach einer kurzen Rückfrage war die Sache geklärt. Lag nicht ein wenig Wehmut in ihrer Stimme, als sie mit Berthold Prestl sprach? «Sie können unsern ‹Geheimgang› benutzen», teilte sie Dr. Laubmann mit.
Laubmann freute sich immer auf den Besuch beim kommissarischen Bibliotheksdirektor. Die Bibliotheksangestellte drückte einen Knopf an ihrem Schreibtisch, und an der Rückwand des Vorraums ertönte das summende Geräusch eines elektrischen Türöffners sowie das Aufschnappen einer Metalltür. Philipp hastete darauf zu und verschwand sogleich in der Wand, genauer gesagt, im dahinterliegenden Gang.
Dieser Gang – und in der ehrwürdigen Fakultät gab es einige solcher Gänge – war eigentlich ein langes, niedriges Gewölbe, nicht sehr hell und an beiden Seiten dicht mit Bücherregalen bestückt. Es waren aber keine gleichförmigen Regalreihen; sie waren vielmehr durchsetzt von geschlossenen oder verglasten Schränken. Laubmann vermutete, daß hier verstorbene Pfarrer die Universitätsbibliothek testamentarisch mit ihren Büchersammlungen und -schränken bedacht hatten. Der Geruch des alten Papiers, des Leims und des Leders gefiel Philipp. Schließlich hielt er sich etwas darauf zugute, ein Büchernarr zu sein. Zur rechten wie zur linken Seite schnuppernd, war Philipp Laubmann durch das Gewölbe gegangen und hatte bald eine Aufzugstür erreicht. An einer der Aufzugstasten war zu lesen: «Direktion». Schleppend bewegte sich der Aufzug mit Laubmann nach oben, in den zweiten Stock. Dort angelangt, trat der Theologe in eine ganz andere Welt: Die Flure lagen großzügig vor ihm, prächtige Portaltüren öffneten sich in ausschweifend angelegte, saalartige Räumlichkeiten. Aus einem Fenster konnte man auf die Stadt blicken, die von hier aus betrachtet geradezu biedermeierlichen Charme ausstrahlte.
«Herr Dr. Laubmann, hier sind wir!» Dr. Prestl bevorzugte manchmal den «Pluralis majestatis», um seine amtliche Autorität herauszustreichen, hätte jedoch, darauf angesprochen, entschieden behauptet, er gebrauche nur den Plural der Bescheidenheit, den «Pluralis modestiae», der angesichts der langen Geschichte seiner Bibliothek und ihrer unermeßlichen Schätze angemessen sei.
Er war aus seinem Büro herausgekommen und hatte auf den wissenschaftlichen Assistenten des Lehrstuhls für Moraltheologie gewartet. Laubmann fand, daß Prestls Stimme immer etwas zu hoch und zu «oberflächlich» klang, zumindest für einen erfolgreichen Mann von 48 Jahren in einem gut geschnittenen Anzug. Sein ebenmäßiges Gesicht mit den schmalen Lippen wurde durch einen genauso schmal gehaltenen ergrauten Backenbart gerahmt. Prestl litt unter Haarausfall und darunter, daß nicht nur sein Bart, sondern auch sein ursprünglich schwarzes Haupthaar ergraute, obwohl das Graumelierte der Würde eines Bibliothekars keinen Abbruch tat.
Er war nicht viel größer gewachsen als Philipp, beugte sich aber bei der Begrüßung leicht herablassend mit zur Seite geneigtem Kopf zu seinem Gast hin, zu jedem seiner Gäste. Diese Körperhaltung wirkte wie eingeübt. Seine Liebenswürdigkeit war nicht ganz frei von Nervosität. Laubmann erklärte sich die Anspannung Dr. Prestls damit, daß er zwar designierter Leiter der Bibliothek war, aber noch nicht endgültig ernannt. Und diese Ernennung ließ auf sich warten, wahrscheinlich aus Sparsamkeitsgründen. Der Staat hatte Zeit. Das machte Dr. Prestl zunehmend nervöser. Berthold Prestl forderte Laubmann auf, sich vor einen Rokokotisch zu setzen, der offensichtlich als Schreibtisch diente. Das gefiel Philipp nicht, obwohl er sich bedankte; denn lieber wäre er noch etwas stehengeblieben, um sich in alle Richtungen hin umzusehen. Was gab es hier nicht alles zu entdecken: die Bücherschränke, die Fensternischen mit den Regalen darunter, die verzierten Karteikästen, die sein Herz
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