Lauf des Lebens
einprogrammiert.
Vielleicht war ein Wandel schon gar nicht mehr möglich? Vielleicht hatten die vielen bitteren Enttäuschungen in ihrer Kindheit ihre Psyche so drastisch verändert, dass sie es niemals schaffen würde, über den Rand des Abgrunds zu blicken?
Die Vision einer trostlosen und einsamen Zukunft blitzte vor Dione auf, und ein unterdrückter Schluchzer brach endlich hervor. Trotzdem fing sie nicht an zu weinen, obwohl ihre Augen und Lider brannten. Warum sollte sie Tränen für vergangene Jahre vergießen, die sich einsam, leer und öde hinter ihr ausdehnten? Sie hatte sich an die Einsamkeit gewöhnt – und sie hatte ihre Arbeit. Durch die Arbeit kam sie mit Menschen in Berührung, konnte ihnen Hoffnung und Hilfe geben. Vielleicht war das nicht genug, aber es war sicher besser, als erneut verletzt und womöglich zerstört zu werden.
Plötzlich flammte eine Erinnerung an Scott in ihr auf, und sie hätte fast laut geschrien. Ihre Hände machten im Dunkeln eine blitzschnelle Abwehrbewegung. Ihre Bauchschmerzen verwandelten sich in heftige Übelkeit, die sie regelrecht hinunterwürgen musste. Einen Moment wankte sie am Rand eines schwarzen Abgrundes entlang. Erinnerungen schossen ihr entgegen wie Fledermäuse aus einer modrigen Höhle. Dann biss sie die Zähne zusammen, unterdrückte einen gewaltigen Angstschrei, der ihr schon in der Kehle saß, und streckte eine zitternde Hand nach der Nachttischlampe aus. Das Licht verjagte den Schrecken. Sie lag da und starrte auf die Schatten im Zimmer.
Ganz bewusst versuchte Dione, die aufsteigenden Erinnerungen zurückzudrängen und sich Blakes Gesicht vor Augen zu rufen – wie einen Talisman gegen das Böse. Als sie seine blauen Augen sah, die vor Verzweiflung glühten, stockte ihr der Atem. Warum lag sie hier und bemitleidete sich selbst, während Blake am Rand seines eigenen Abgrundes schwankte? Blake war derjenige, um den es hier ging, nicht sie. Wenn er jetzt sein Interesse an der Therapie verlor, würde das alle Fortschritte zunichtemachen.
Jahrelang hatte Dione sich darauf konditioniert, ihre Probleme und persönlichen Interessen beiseitezuschieben und sich voll und ganz auf ihre Patienten zu konzentrieren. Die Patienten hatten den Nutzen daraus gezogen, und das Ausblenden ihrer persönlichen Belange war Teil ihrer Verteidigungsstrategie geworden, die immer dann zum Einsatz kam, wenn ihr die Dinge über den Kopf wuchsen. Auch jetzt funktionierte sie nach diesem Muster und unterdrückte gnadenlos alle Gedanken, die nichts mit Blake zu tun hatten. Sie starrte so konzentriert an die Decke, als wollte sie ein Loch hineinbrennen.
Oberflächlich betrachtet, schien das Problem ganz einfach zu sein: Blake brauchte Gewissheit darüber, dass Frauen ihn noch erregen und er Sex mit ihnen haben konnte. Sie wusste nicht, warum es momentan nicht klappte – zumindest fielen ihr keine anderen Gründe ein als die, die sie ihm vorhin genannt hatte. Wenn sie damit recht hatte, dann würde sein sexuelles Interesse auf ganz natürliche Weise wiedererwachen, und zwar in dem Maße, in dem er wieder zu Kräften kam. Vorausgesetzt, er hätte jemanden, an dem sich sein sexuelles Interesse entzünden könnte.
Und genau das war das Problem, das Dione hin- und herwälzte. Ganz offensichtlich war Blake noch nicht so weit, sich mit Frauen zu verabreden. Schon allein deswegen, weil sein Stolz es ihm verbieten würde, fremde Hilfe beim Autofahren und bei Restaurantbesuchen in Anspruch zu nehmen. Außerdem müsste Dione ihm erst einmal erlauben, die Therapie für diese Zwecke zu unterbrechen, was selbstverständlich nicht in Frage käme. Nein, er musst e die Therapie konsequent durchziehen, gerade jetzt, wo der anstrengendste, schmerzlichste und zeitintensivste Teil bevorstand.
Doch gerade jetzt war der Kreis an verfügbaren Frauen für Blake ziemlich überschaubar. Außer Serena, Alberta und Angela gehörte nur noch sie selbst dazu – aber sie zählte natürlich nicht. Denn wie konnte sie Begehren wecken, wo sie doch zurücksprang wie von der Tarantel gestochen, wenn ein Mann nur auf sie zukam? Kein guter Start für einen Flirt.
Sie runzelte die Stirn. Das galt für alle Männer … außer für Blake. Blake konnte sie berühren, ohne dass sie zurückschreckte. Sie hatte sich im Armdrücken mit ihm gemessen, war mit ihm auf dem Fußboden herumgerollt – hatte ihn geküsst.
Die Idee, die in ihr aufkeimte, schien ihr anfangs so absurd und abwegig, dass sie sie zunächst heftig von der
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