Lauf des Lebens
Fenster hereinfiel.
Warum also war sie trotzdem so sicher, dass er das Zittern ihrer Unterlippe und ihre plötzliche Blässe genau registrierte?
„Verdammt“, sagte er leise. „Jedes Mal, wenn ich etwas sage, trete ich ins Fettnäpfchen. Jetzt schon wieder, stimmt’s?“
Sie zuckte die Achseln, krampfhaft bemüht, ihn nicht merken zu lassen, wie dünn ihre Schutzschicht war. „Schon okay“, murmelte sie. „Das ist lange her. Ich war noch ein Kind, das nicht wusste, was es wollte.“
„Wie alt warst du?“
„Achtzehn. Scott, mein Mann, war dreiundzwanzig. Wir waren beide nicht reif für die Ehe.“
„Wie lange hat sie gehalten?“
Sie stieß ein bitteres Lachen aus. „Drei Monate. Nicht eben rekordverdächtig.“
„Und warst du seitdem verliebt und hattest Beziehungen?“
„Nein, ich wollte nicht. Mir geht’s gut alleine.“ Das Gespräch dauerte für ihren Geschmack schon viel zu lange. Sie wollte nicht noch mehr preisgeben. Wie war es ihm gelungen, die Mauer zu überwinden, hinter der sie ihre Vergangenheit versteckt hielt? Die meisten Menschen bemerkten nicht einmal die Existenz dieser Mauer. Sie streckte ihre Beine und krabbelte aus dem Bett, sorgsam darauf bedacht, dass ihr Nachthemd nicht hochrutschte.
Blake stieß einen wüsten Fluch aus. „Du flüchtest, meine Liebe. Weißt du, wie lange du schon hier bist, ohne auch nur einen einzigen Anruf oder Brief erhalten zu haben? Du hast dich mit mir in diesem Haus verschanzt und von der Außenwelt abgeschirmt. Hast du keine Freundinnen – und keinen Freund an der Leine? Wovor da draußen hast du Angst?“
„Gar nichts da draußen macht mir Angst“, sagte sie leise, und es stimmte. All ihre Ängste waren in ihrem Inneren eingekapselt.
„Ich glaube, du fürchtest dich vor allem“, sagte er und streckte seinen Arm nach der Nachttischlampe aus. Der sanfte Lichtkegel ließ die Schatten mit einem Schlag verschwinden und beleuchtete Dione in ihrem weißen Nachthemd und mit ihren wallenden schwarzen Haaren. Sie sah fast aus wie eine Frau aus dem Mittelalter, die in ihrer eigenen Festung gefangen war. Seine blauen Augen musterten sie scharf. Dann sagte er sanft: „Du fürchtest dich vor dem Leben, deshalb lässt du nichts an dich heran. Du benötigst mindestens ebenso sehr wie ich eine Therapie. Bei mir sind es die Muskeln, auf die kein Verlass ist, bei dir sind es die Gefühle.“
6. KAPITEL
Den Rest der Nacht schlief Dione nicht mehr. Sie lag wach und fühlte, wie die Sekunden, Minuten und Stunden verrannen. Blake hatte recht. Sie fürchtet e sich vor dem Leben, denn das Leben hatte sie jedes Mal bestraft, wenn sie zu viel von ihm erwartet hatte. Sie hatte die Lektion begriffen und gelernt, nicht zu viel zu verlangen, um nichts mehr zu riskieren. Sie hatte sich selbst Freunde, Familie und sogar den Luxus eines eigenen Zuhauses versagt, nur um nicht mehr verletzt zu werden.
Sie war nicht der Typ, der sich selbst belog. Also blickte sie der Wahrheit ins Auge. Ihre Mutter hatte sie nicht gerade mit Nestwärme verwöhnt, und Scott war nicht eben das Paradebeispiel eines liebenden Ehemannes gewesen. Beide hatten sie verletzt, das stimmte, doch war das kein Grund, gleich alle Menschen in Sippenhaft zu nehmen. Serena hatte ihr ihre Freundschaft angeboten, aber Dione hatte die Ernsthaftigkeit des Angebots angezweifelt und sehr distanziert darauf reagiert. Aber diese Zweifel waren nur vorgeschoben gewesen. Im Grunde hatte Dione bei Serena instinktiv genau so reagiert, wie sie immer reagierte, wenn ihr jemand zu nahe kam: mit Rückzug. Doch sie musste Risiken eingehen, sonst würde ihr Leben zu einer einzigen Farce werden, da konnte sie noch so vielen Patienten helfen. Sie selbst brauchte Hilfe, mindestens ebenso sehr wie Blake.
Aber den Tatsachen ins Auge zu sehen und mit ihnen umzugehen, waren zwei Paar Schuhe. Allein der Gedanke daran, ihren Schutzwall einzureißen und andere Menschen an sich heranzulassen, bereitete Dione Bauchschmerzen. Dinge, die anderen Menschen völlig selbstverständlich schienen, waren ihr fremd: Nie hatte sie bis spät in die Nacht mit einer Freundin herumgealbert, nie war sie auf einer Party gewesen, nie hatte sie gelernt, ungezwungen mit anderen Menschen umzugehen. Sie hatte ihr ganzes Leben mit dem Rücken zur Wand gestanden und sich selbst verteidigt. Und mit der Zeit war ihr die Selbstverteidigung in Fleisch und Blut übergegangen. Sie war keine Attitüde, sondern ein Wesenszug, sie war wie genetisch
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