Lauf, Jane, Lauf!
schien Jane ewig zu dauern. Sie wurde immer weiter nach hinten gedrückt. Aber dann war endlich der zweite Stock erreicht, und sie drängte sich Entschuldigungen murmelnd hastig nach vorn durch, kam gerade noch hinaus, ehe die Tür sich wieder schloß, und hörte von drinnen das erleichterte Aufatmen der Zurückbleibenden. Sie versuchte die verschiedenen Schilder an den Wänden zu entziffern, Pfeile und Wegweiser, die ihr vermutlich alles sagen konnten, was sie wissen mußte, aber die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen, und schließlich gab sie auf.
»Entschuldigen Sie«, sagte sie zu einem vorübereilenden jungen Arzt, »können Sie mir sagen, wo die Bibliothek ist?«
Er zeigte ihr den Weg, versäumte allerdings nicht, sie darauf aufmerksam zu machen, daß die Bibliothek nur dem Krankenhauspersonal zugänglich sei. Jane dankte ihm und wartete, bis er außer Sicht war, ehe sie sich wieder auf den Weg machte. Wenn die Bibliothek nur dem Personal zugängig war, würde sie eben dafür sorgen müssen, daß sie zum Personal gehörte.
»Hallo«, sagte sie zu der Frau, die offenbar die Bibliothekarin war. »Ich bin Vicki Lewis, Dr. Meloffs Sekretärin. Er hat mich gebeten, während seiner Abwesenheit verschiedenes für ihn nachzuschlagen.«
»Natürlich. In Ordnung.«
Jane atmete auf. Die Frau schien keinerlei Verdacht zu haben. Wenn nur alles andere auch so einfach wäre, dachte Jane. Sie hatte keine Ahnung, wie sie an die Informationen herankommen sollte, die sie suchte.
»Können Sie mir vielleicht helfen?« fragte sie zaghaft.
Die Bibliothekarin lächelte. »Dazu bin ich ja da.«
»Ich brauche ein umfassendes psychiatrisches Werk.«
»Da haben wir hier eine ganze Menge.« Die Frau, klein und rundlich, stand von ihrem Platz hinter dem Schreibtisch auf und führte Jane an mehreren hohen Büchergestellen vorbei zu einem Regal an der rückwärtigen Wand. »Hier haben Sie alle psychiatrischen Texte. Wie Sie sicherlich wissen«, fügte sie hinzu, als wäre ihr eben eingefallen, daß die Sekretärin eines Neurologen sich da eigentlich auskennen müßte. Sie deutete auf einen besonders dicken und schweren Band. »Da finden Sie wahrscheinlich alles, was Sie brauchen.«
»Vielen Dank.« Jane nahm den schweren Wälzer in beide Arme und sah sich suchend um.
»Da drüben.« Die Frau zeigte auf mehrere lange Tische. Sich mit den Fingern Luft zufächelnd, ging sie zu ihrem Schreibtisch zurück, dann blieb sie plötzlich stehen. »Wie war gleich noch Ihr Name?«
»Vicki Lewis«, antwortete Jane leise. »Dr. Meloffs Sekretärin.«
»Natürlich. Er ist im Urlaub, soviel ich weiß.«
»Beim Wildwasser-Kanufahren«, bestätigte Jane und kämpfte gegen das aufkommende Schwindelgefühl.
»Sehr abenteuerlich.«
»Jedem das Seine«, hörte Jane sich sagen und zuckte mit den Achseln. Vielleicht war sie tatsächlich Vicki Lewis.
Sie ließ das schwere Buch mit einem Knall auf den Tisch fallen, der einen in der Nähe sitzenden jungen Arzt aufschrecken ließ. Der junge Mann lächelte ihr flüchtig zu, ehe er sich wieder in seine Studien vertiefte. Die Bibliothekarin warf ihr einen Blick zu, zog dann eine Schublade ihres Schreibtisches auf und entnahm ihr ein Blatt, das wie eine Liste aussah. Prüft sie jetzt nach, ob Dr. Meloff wirklich eine Sekretärin namens Vicki Lewis hat? fragte sich Jane und senkte den Kopf hastig über ihr Buch, als die Frau wieder zu ihr herübersah.
An die Arbeit, befahl sie sich und fand nach kurzem Suchen die ›Amnesie‹ unter >A<. Na, wenigstens hat sie nicht vergessen, wo sie hingehört, dachte sie und unterdrückte hastig ein Lachen. Verstohlen sah sie zu der Bibliothekarin hinüber, aber die Frau war am Telefon und hatte sie nicht gehört. Konzentrier dich, sagte sie sich und wünschte, die Wörter auf den Buchseiten würden endlich stillstehen.
Die Amnesie wurde als teilweise oder totale Unfähigkeit beschrieben, sich an vergangene Erlebnisse und Erfahrungen zu erinnern. Sie konnte die Folge einer organischen Gehirnerkrankung, aber auch emotionaler Störungen sein. Lag der Amnesie eine rein emotionale Störung zugrunde, so diente sie der Erfüllung spezifischer emotionaler Bedürfnisse und gab sich im allgemeinen, wenn sie nicht mehr gebraucht wurde.
Genau wie Dr. Meloff ihr erklärt hatte, hieß es da, die hysterische Amnesie sei ein Erinnerungsverlust im Zusammenhang mit
einer bestimmten Periode des vergangenen Lebens oder gewisser Situationen, die mit starker Angst oder Wut verbunden
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