Lauf, Jane, Lauf!
Zeitgefühl verloren. »Was für einen Tag haben wir heute.«
»Donnerstag, den 26. Juli 1990«, antwortete Vicki Lewis präzise.
»Danke.«
»Ich kann Ihnen einen der Stationsärzte rufen. Ich glaube, Dr. Klinger ist da.«
»Nein!«
Vicki Lewis fuhr zusammen bei der heftigen Reaktion und griff automatisch zum Telefon.
»Ich möchte nicht zu Dr. Klinger.« Dr. Klinger mit seinen ausdruckslosen Augen und dem Mund, der nicht lächeln konnte; Dr. Klinger, dem es an Humor und Mitgefühl völlig fehlte. Was würde er von dem halten, was sie zu erzählen hatte? »Ich möchte nur einen Moment hier sitzen bleiben, bis ich weiß, was ich tun soll.«
»Bitte.« Vicki Lewis wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Computer zu.
Und was tue ich jetzt? fragte sich Jane, mit den Tränen kämpfend. Sie hatte alles so genau geplant. Im Taxi hatte sie das bevorstehende Gespräch mit Dr. Meloff bis auf das letzte Wort ausgefeilt und geprobt. Sie hatte sich auf jede mögliche Entgegnung von ihm vorbereitet, genau gewußt, wie sie auf jede ungläubige Frage antworten würde. Sie hatte beschlossen, ihn
gewissermaßen bei der Hand zu nehmen und behutsam in den Alptraum hineinzuführen, die erfahrene Führerin, die dem mißtrauischen Besucher Schritt für Schritt die bedeutenden Sehenswürdigkeiten nahebringt. Ich weiß, es wird Ihnen schwerfallen, mir das zu glauben, Dr. Meloff, und vielleicht gibt es ja für alles eine logische Erklärung, aber ich kann sie nicht finden. Vielleicht gelingt es ja Ihnen.
Was gibt es denn für Probleme, Jane?
Sie sagten mir doch, meine Erinnerung würde wahrscheinlich in einigen Wochen zurückkehren.
Das war kein Versprechen, Jane. Der menschliche Geist hat seinen eigenen Fahrplan.
Das weiß ich. Das ist nicht der Grund, weshalb ich hier bin. Ich bin zu Ihnen gekommen, weil seit meiner Heimkehr merkwürdige Dinge geschehen...
Was denn?
Ich fühle mich sehr krank, Dr. Meloff, und völlig lethargisch. Es gibt Tage, da komme ich kaum aus dem Bett.
Das haben wir doch am Telefon besprochen, Jane. Ich sagte Ihnen, daß eine Depression unter solchen Umständen nichts Ungewöhnliches ist.
Ich weiß, aber das ist ja noch nicht alles. Mein Mann gibt mir andere Mittel als die, die Sie verschrieben haben.
Wie kommen Sie denn darauf?
Sie sagten, Sie hätten mir Ativan verschrieben. Ich habe einige von den Tabletten, die Michael mir gibt, zu einem Apotheker gebracht. Er sagte, das sei gar kein Ativan, sondern Haldol.
Haldol? Sie müssen sich irren. Haben Sie die Tabletten bei sich?
Ja. Hier.
Nein, das sind wirklich nicht die Tabletten, die ich verordnet habe. Sind Sie ganz sicher, daß es das Mittel ist, das Ihr Mann Ihnen gibt?
Ja. Es macht mich krank. Mir ist dauernd schwindlig und übel, ich fühle mich benommen und immer wie benebelt.
Das ist kein Wunder. Das ist ein sehr starkes Mittel. Aber weshalb sollte Ihr Mann Ihnen so etwas geben? Er ist ein hochangesehener Arzt. Er kennt sich aus. Das erscheint mir völlig unsinnig.
Ich habe Ihnen nicht die ganze Geschichte erzählt, Dr. Meloff.
Und was ist die ganze Geschichte?
Als ich da plötzlich in Boston herumirrte und nicht mehr wußte, wer ich war, entdeckte ich etwas, von dem ich keinem Menschen etwas gesagt habe.
Auch nicht der Polizei?
Ich hatte Angst, der Polizei etwas davon zu sagen. Ich habe nämlich in den Taschen meines Mantels fast zehntausend Dollar gefunden.
Was?
Und mein Kleid war vorn ganz voll Blut.
Blut?
Ja. Ich wollte es Ihnen gleich erzählen. Aber dann erkannte mich diese junge Ärztin, und danach ging alles so schnell, daß ich gar nicht mehr dazu kam, etwas zu sagen.
Und Ihrem Mann haben Sie auch nichts gesagt?
Nein.
Wessen Blut war das auf Ihrem Kleid?
Zuerst hatte ich keine Ahnung. Aber jetzt weiß ich, daß Michael mich belogen hat, als ich ihn nach der Verletzung an seiner Stirn fragte.
Ich verstehe.
Was verstehen Sie?
Sie glauben, daß das Blut auf Ihrem Kleid von Ihrem Mann stammt.
Ja. Ich glaube, er weiß etwas, was er mir verschweigt. Ich vermute, daß ich ihn geschlagen habe.
Und Sie glauben, er gibt Ihnen nun Haldol, um zu verhindern, daß Sie sich erinnern, was den Vorfall ausgelöst hat?
Er hat sogar davon gesprochen, mich in eine Anstalt einweisen zu lassen. Da hätte er mich natürlich für immer los.
Aber was ist mit dem Geld?
Mit dem Geld?
Mit den zehntausend Dollar, die Sie in Ihren Manteltaschen gefunden haben. Woher kam es?
Ich weiß es nicht. Ich weiß nicht, wie es dahin gekommen
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