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Lauf, Jane, Lauf!

Titel: Lauf, Jane, Lauf! Kostenlos Bücher Online Lesen
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alles, was mir geblieben war. Der Gedanke, ich könnte auch dich verlieren, war unerträglich.« Er wischte sich die Augen mit dem Handrücken. »Aber es wurde einfach zuviel, selbst für mich. Ich schäme mich, es einzugestehen.«
    Er stand auf. »Als ich nach Hause kam und dich beim Packen vorfand, versuchte ich, vernünftig mit dir zu reden und dich aufzuhalten, und in dem ganzen Durcheinander schlugst du mir plötzlich die Vase auf den Kopf. Es war eine, die wir auf unserer Orientreise gekauft hatten. Sie war aus Messing und hatte lauter komische Buckel und Spitzen. Sie erwischte mich so, daß sie mich beinahe skalpiert hätte. Ich brach zusammen und fiel gegen dich. Als du das Blut sahst, kam bei dir wahrscheinlich die Erinnerung an den Unfall wieder hoch, und das war einfach zuviel. Du wurdest mit der Situation nicht mehr fertig. Und da bist du eben geflohen. Ich kann es dir nicht einmal übelnehmen.«
    »Unsere Tochter ist tot«, sagte Jane. Es war halb Frage, halb Feststellung.
    »Du kannst dich noch immer nicht erinnern?«

    Jane schüttelte den Kopf. »Ich habe meine Mutter und meine Tochter getötet«, murmelte sie.
    »Es war ein Unfall, Jane.«
    »Aber sie sind beide tot.«
    »Ja.«
    »Und ich bin gefahren.«
    »Ja. Aber es war nicht deine Schuld.«
    »Ungeduldig und in Hetze, das hast du doch gesagt, nicht?«
    »Das hast du gesagt. Nach dem Unfall.«
    »Und ich muß es ja wissen. Ich habe überlebt.«
    »Wirklich?« fragte Michael. »Wie viele Leben sollen durch diesen Unfall noch zerstört werden, Jane?«
    Sie blickte in das tränennasse Gesicht ihres Mannes, sah die Güte in seinen Augen, fühlte die Zärtlichkeit seiner Berührung und sagte nichts mehr.

22
    »Sie ist im Wintergarten.«
    »Wie geht es ihr?«
    »Nicht gut.«
    »Ich versteh das nicht. Wie lange geht das denn schon so?«
    »Es fing ungefähr Mitte Juni an. Seitdem hat sich ihr Zustand immer weiter verschlechtert.«
    »Mitte Juni? Das ist mehr als ein Monat. Herrgott, Michael, wieso hat eure Haushälterin mir erzählt, sie wäre bei ihrem Bruder in San Diego?«
    »Wir dachten, wir könnten so am besten mit der Situation fertig werden. Versteh doch, Diane, kein Mensch, nicht ich, nicht ihre Ärzte, konnte ahnen, daß dieser Zustand so lange anhalten und sich sogar noch verschlimmern würde.«

    »Sie hat überhaupt keine Ahnung, wer sie ist?«
    »Wir haben es ihr gesagt, aber sie erinnert sich nicht«, erklärte Michael. »Sie kennt ihr Leben bis ins Detail, aber sie erinnert sich nicht, es gelebt zu haben.«
    »Mein Gott, ich kann das nicht glauben. Hast du eine Ahnung, wodurch das ausgelöst wurde?«
    »Durch den Unfall«, sagte er kurz.
    »Aber das ist doch mehr als ein Jahr her. Sie schien das Schlimmste überstanden zu haben.«
    »Ich glaube, das Schlimmste steht uns noch bevor.«
    Jane hörte ihre Stimmen wie durch Störfelder. Die Wörter bewegten sich auf sie zu, anfangs laut und kräftig, nur um vorzeitig zu verklingen; prallten schmerzhaft auf ihre Trommelfelle, nur um sich dann zurückzuziehen, ehe es ihr gelang, sie zu verstehen. Sie sprachen über sie, das wußte sie. Sie sprachen immer über sie. War es wichtig, was sie sagten?
    Sie lag auf ihrer geliebten Hollywoodschaukel, von oben bis unten in Decken gehüllt, obwohl sie schwitzte. Ist es Schweiß oder Speichel? fragte sie sich, ohne sich die Mühe zu machen, das dünne Rinnsal an ihrem Mundwinkel abzuwischen. Sie ließ das die anderen tun - ihre Gäste, die vielen Menschen, die Michael in ihr Leben zurückgeholt hatte, seit er sie aus dem Krankenhaus nach Hause gebracht hatte. Wie lange war das her? Ein paar Tage? Eine Woche?
    Sie lächelte, dankbar, daß die Zeit ihr nun wieder entglitt. Undenkbar, daß sie noch vor kurzem gegen dieses Phänomen gewütet hatte, daß sie zornig und voller Groll gewesen war, weil durch die Medikamente, die man ihr gab, die Tage miteinander zu verschmelzen schienen, so daß sie wie Pralinen, die in der Sonne zerlaufen, eine einzige formlose Masse bildeten. Undenkbar, daß sie versucht hatte, sich gegen das köstliche Vergessen, dem sie sich nun endlich überlassen konnte, aufzulehnen - wozu? Um sich an die häßlichen Einzelheiten eines vergeudeten Lebens zu
erinnern, eines Lebens, an das sie sich sogar noch geklammert hatte, nachdem sie ihre Mutter und ihr Kind getötet hatte?
    Nach der Szene im Krankenhaus hatte Michael sie nach Hause gebracht. Sie erinnerte sich, daß die Ärzte und die Schwestern sehr fürsorglich gewesen waren, daß

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