Lauf, Jane, Lauf!
Bilder von Emily alle mindestens ein Jahr alt waren? Es hätte ihr doch seltsam erscheinen müssen, daß es in dieser Familie, die sonst alle kleinen und großen Ereignisse ihres Lebens im Bild festzuhalten schien, keinerlei Fotos aus dem vergangenen Jahr gab. Sie hatte es einfach nicht sehen wollen, sagte sie sich. Weil sie noch nicht bereit gewesen war, sich den Scherbenhaufen anzusehen, den sie aus ihrem Leben gemacht hatte; weil sie noch nicht bereit gewesen war, sich mit der Zerstörung, die sie angerichtet hatte, auseinanderzusetzen.
Ich bin es, die zerstört werden sollte, dachte sie, eingeschläfert wie ein toller Hund. Eine tödliche Spritze, sagte sie sich und spürte, als sie sich den Arm unter der Decke rieb, den feinen Schmerz an der Stelle, an der Michael erst an diesem Morgen eine weitere Spritze angesetzt hatte.
Sie erinnerte sich an ihr wachsendes Mißtrauen gegenüber Michael. Sie war wirklich überzeugt gewesen, daß er ihr schaden wollte, daß er es bewußt darauf anlegte, ihren Geist zu zerstören. Dabei hatte er einzig und allein versucht, ihn zu retten.
Und jetzt brachte er Besuch mit. Nachdem er ihr wochenlang jeden Kontakt selbst mit ihren engsten Freunden verweigert hatte, fand er es jetzt anscheinend an der Zeit, ihnen zu demonstrieren, was für ein Höllenleben er seit langem führte. Zuerst hatte er Sarah und Peter Tanenbaum angerufen, und sie waren sofort gekommen. Sarah war bei Janes Anblick in Tränen ausgebrochen, Peter hatte sich abgewandt und lieber mit Michael gesprochen.
Sie hatte die Arme nach ihnen ausstrecken und sie trösten, ihnen sagen wollen, daß es so gut war, daß sie sich für den Wahnsinn entschieden hatte, daß er ihr gefiel, daß man sich um sie nicht sorgen mußte. Aber ihre Arme ließen sich nicht bewegen, und die Stimme blieb ihr im Hals stecken. Mit trüben Augen, durch die sie ihre Umgebung wie hinter einem Schleier wahrnahm, starrte sie ihre Freunde an und sagte nichts, wünschte nur, daß sie gehen und sie ihrem Schicksal überlassen würden. Sie verdiente schließlich nichts anderes. Sie hatte versucht zu fliehen, aber sie war wieder eingefangen und zurückgebracht worden, um sich ihrer Verurteilung zu stellen.
Es war noch anderer Besuch gekommen. In den letzten Tagen hatte Michael beinahe alle ihre Freunde um sie versammelt, auch wenn er ihnen nicht erlaubte, länger als ein paar Minuten zu bleiben. Janet und Ian Hart, Lorraine Appleby, David und Susan Carney, Eve McDermott - Ross war zum Angeln gefahren, hörte sie Eve erklären -, alle kamen sie zu ihr in den Wintergarten und starrten sie an, als wäre sie eine der berühmten Wachsfiguren von Madame Tussaud.
»Sagt nichts von Emily«, warnte Michael sie alle, und keiner sagte auch nur ein Wort. Sie war dankbar dafür.
»Sag nichts von Emily«, hörte sie ihn auch jetzt mit gesenkter Stimme auf der anderen Seite des Raumes sagen, und einen Augenblick später kniete Diane Brewster vor ihr nieder.
»O Gott«, stöhnte Diane mit tränennassen Augen, gerade so
laut, daß Jane es hören konnte, und schwankte, als würde sie gleich ohnmächtig werden.
»Beruhige dich«, sagte Michael beschwichtigend und beugte sich zu Diane hinunter, um ihr die Schulter zu tätscheln. »Sie hat keine Schmerzen.«
»Kann sie mich hören?«
»Ja.« Michael trat zu Jane und strich ihr über das Haar. »Diane ist hier, Liebes. Kannst du Diane guten Tag sagen?«
Jane versuchte mit den Lippen die Worte zu formen, versuchte, den schwierigen Namen über ihre Zunge rollen zu lassen, aber sie brachte nur ein unkontrolliertes Zucken zustande und gab ihre Bemühungen auf. Wozu auch?
Diane sprang zornig auf. »Ich verstehe das nicht, Michael. Ich begreife nicht, was mit ihr geschehen ist. Ich weiß, du hast mir vorher gesagt, was ich zu erwarten habe. Ich weiß, daß sie ein seelisches Trauma...««
»Diane!« unterbrach er sie warnend, und Diane schnaufte ein paarmal tief, in dem Versuch, wieder ruhig zu werden.
»Aber Michael, sie ist meine älteste Freundin. Sie war immer so lebhaft, so temperamentvoll und klar. Ich kann einfach nicht glauben, daß das derselbe Mensch ist.«
Michael beschränkte sich darauf, zustimmend zu nicken.
»Können die Ärzte denn gar nichts tun?«
»Wir versuchen alles.«
»Aber sie ist so wahnsinnig dünn geworden.«
»Sie will nicht essen.«
Diane schlug sich mit beiden Händen an die Seiten und kniete wieder vor Jane nieder. »Es wird alles wieder gut, Janey. Du schaffst das schon. Wir
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