Lauf, Jane, Lauf!
Meloff gesagt. Als das Ativan keine Wirkung zeigte und du wieder in diese tiefe Depression rutschtest, meinte er, wir sollten es noch einmal mit Haldol versuchen.«
Jane stand auf. Schwankend, immer wieder an Tisch und Stühle stoßend, ging sie auf und ab, nicht bereit, sich von Michael stützen zu lassen. »Da stimmt etwas nicht. Da fehlt etwas«, murmelte sie, hielt plötzlich inne und blieb reglos stehen. »Was verschweigst du mir?«
»Nichts. Glaub mir, Jane, ich habe dir alles gesagt.«
»Nein, das hast du nicht. Ich kenne dich gut genug, um zu merken, daß du mir etwas verschweigst. Sag es mir.«
»Jane, bitte, ich habe genug gesagt.«
»Sag es mir, Michael!« schrie sie. »Du hast gesagt, nach dem Tod meiner Mutter hätte ich Schuldgefühle gehabt. Du hast vom Schuldgefühl der Überlebenden gesprochen. Was soll das heißen? Weshalb sollte ich mich schuldig fühlen, wenn ich gar nicht mit im Auto saß? Wenn es nicht so war, daß ich bei dem Unfall davonkam und sie nicht.« Sie senkte die Stimme zu einem Flüstern. »War es so, Michael? Saß ich mit im Auto?«
Michael neigte den Kopf. »Du bist gefahren.«
Janes Knie gaben nach. Einen Moment taumelte sie, dann brach sie zusammen. Michael fiel vor ihr auf die Knie.
»Ich bin gefahren?« stammelte sie. »Ich war schuld an dem Unfall, bei dem meine Mutter ums Leben kam?«
Michael sprach langsam und wählte seine Worte mit Sorgfalt. »Du hattest ihr versprochen, an diesem Morgen mit ihr zum Einkaufen zu fahren. Am Nachmittag mußtest du zu irgendeiner Veranstaltung in Emilys Schule. Ich denke, du kamst ein bißchen in Hetze. Wie dem auch sei, vielleicht bist du etwas zu schnell gefahren, vielleicht hast du beim Abbiegen nicht richtig aufgepaßt, ich weiß nicht genau, wie es passierte. Zeugen zufolge
bogst du links ab, ohne geblinkt zu haben. Ein Auto, das aus der entgegengesetzten Richtung kam, prallte voll in deinen Wagen. Auf der Beifahrerseite.« Michael rutschte an ihre Seite und nahm sie in die Arme. »Deine Mutter war auf der Stelle tot.«
»O mein Gott! Wie furchtbar!«
»Natürlich machtest du dir schreckliche Vorwürfe. Auch noch, nachdem die Polizei festgestellt hatte, daß der andere Fahrer die Schuld trug. Du quältest dich mit Selbstvorwürfen. >Ich hätte warten sollen<, sagtest du immer wieder. >Ich hätte nicht so ungeduldig sein dürfen. ‹ Niemand konnte dich trösten.« Er sah sie an. »Aber das geht nun viel zu lange so, Jane. Du mußt aufhören, dir selbst die Schuld zu geben. Es war ein Unfall. Es war tragisch, gewiß, aber es ist geschehen, und es ist vorbei. Das Leben geht weiter. Ich weiß, du willst das nicht akzeptieren, aber du mußt es tun, sonst wird es bald für uns alle zu spät sein.«
Jane spürte seine Tränen auf ihrer Wange und entzog sich hastig seiner Umarmung. »Aber das ist noch immer nicht alles, nicht wahr?« fragte sie scharf und beobachtete dabei aufmerksam sein Gesicht. »Du verschweigst mir noch immer etwas.«
»Nein.«
»Doch! Lüg mich nicht an, Michael. Du mußt aufhören, mich zu belügen.«
»Bitte«, flehte er. »Hat der Rest nicht Zeit, bis du wieder etwas stärker bist? Deine seelischen Kräfte haben ihre Grenzen, Jane. Das wissen wir doch jetzt.«
»Was hast du mir verschwiegen?«
Sekundenlang kämpfte er mit dem Wort, das ihm nicht über die Lippen wollte. Als es sich schließlich von seiner Zunge löste, war es nur ein Hauch. »Emily...« Seine Augen wurden feucht.
Jane drückte die Hände auf ihren Magen. Der Name ihrer Tochter hatte sie wie ein Faustschlag getroffen. »Nein! Lieber Gott, nein!«
»Sie saß auf dem Rücksitz. Hinter deiner Mutter. Anscheinend
hatte sie ihren Sicherheitsgurt aufgemacht. Die Wucht des Aufpralls...« Seine Stimme brach. Er setzte von neuem an. »Sie starb in deinen Armen, während du auf den Rettungswagen wartetest. Als es den Sanitätern endlich gelang, sie aus deinen Armen zu lösen, war dein Kleid vorn voller Blut.«
Jane schrie auf.
»Danach warst du wie von Sinnen. Das Jahr, das folgte, war die Hölle. Die Wutausbrüche, die anderen Männer, all die Dinge eben, von denen ich schon erzählt habe. Aber außer mir wußte keiner, wie schlimm es war. Du warst wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde, Freunden und Nachbarn gegenüber wie immer, aber zu Hause völlig verändert. Ich gab die Hoffnung nicht auf, daß es besser werden würde, daß du irgendwann wieder Boden unter die Füße bekommen und zu mir zurückfinden würdest.« Er schluchzte kurz auf. »Du warst
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