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Lauf, Jane, Lauf!

Titel: Lauf, Jane, Lauf! Kostenlos Bücher Online Lesen
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Michael Dr. Klinger erklärt hatte, er habe alles unter Kontrolle und würde sich mit Dr. Meloff in Verbindung setzen, sobald dieser aus dem Urlaub zurück sei. Das beste für Jane, hatte er gesagt, sei seiner Meinung nach im Augenblick viel Ruhe.
    Sie hatte sich willig gefügt. Der Gedanke an ihr warmes Bett war plötzlich sehr verlockend gewesen. Sie konnte es kaum erwarten, unter die Daunendecke zu kriechen. Am liebsten wäre sie für immer darunter verschwunden. Ihr wurde bewußt, daß sie nur noch sterben wollte, und sie zuckte innerlich gleichgültig mit den Schultern.
    Sie wehrte sich nicht mehr gegen die Medikamente, sondern nahm brav alles, was man ihr gab. Die vertraute Taubheit stellte sich wieder ein, kroch ihr in Fingerspitzen und Zehen, verschloß ihre Poren, ließ sich schließlich irgendwo hinter ihren Augen nieder, wo sie eine Art Pufferzone zwischen ihrem Hirn und der Außenwelt schuf. Diesmal war ihr jede unangenehme Nebenwirkung willkommen, sie freute sich beinahe über die Muskelkrämpfe, die sie plagten, denn sie erschienen ihr als angemessene Bestrafung für den Schmerz, den sie verursacht hatte.
    Alles hatte jetzt einen Sinn.
    Das Geld. Das Blut. Pat Rutherford. Die Tatsache, daß sein Name auf einen losen Zettel in ihrer Manteltasche geschrieben und nicht in ihr Adreßbuch eingetragen war, wo Michael ihn vielleicht gesehen hätte. Anfangs hätte sie gern gewußt, ob er wohl versucht hatte, sie zu erreichen, ob es ihn überhaupt interessiert hatte, was aus ihr geworden war. Hatten sie vorgehabt, zusammen abzuhauen? Oder hatte sie an jenem Morgen ihr Verhältnis beendet?

    Die Fragen verflüchtigten sich unter der Wirkung der Medikamente. Sie war erleichtert. Wozu sollte sie sich mit Fragen herumschlagen, die sie doch nicht beantworten konnte? Selbst Michael konnte ihr nicht sagen, was vor ihrem Streit geschehen war; ehe sie ausgerastet war und versucht hatte, ihn mit einer orientalischen Messingvase zu erschlagen. Daß sie ihrem Mann tatsächlich ans Leben gewollt hatte, war für sie nicht mehr schockierend. Schließlich hatte sie ja auch ihre Mutter und ihre Tochter getötet.
    Jane versuchte, dem Tod ein Gesicht zu geben, rief sich die vielen Bilder des kleinen Mädchens ins Gedächtnis, das sie auf den Seiten ihrer Fotoalben hatte heranwachsen sehen; des süßen kleinen Mädchens mit dem scheuen Lächeln und dem wißbegierigen Blick. Emily ist nur noch eine Erinnerung, dachte sie - und nicht einmal das war sie mehr.
    Wie oft hatte sie in den letzten Tagen die Ereignisse des vergangenen Monats durchgespielt? Während sie hier im Wintergarten saß und zusah, wie die schmalen Keile der morgendlichen Sonnenstrahlen sich allmählich verbreiterten, schließlich den ganzen Raum füllten, bis es wieder dunkel wurde, ging sie Tag für Tag noch einmal den ganzen Weg von dem Moment an, als Michael sie, nachdem sie die Erinnerung verloren hatte, das erste Mal aus dem Krankenhaus nach Hause gebracht hatte. Sie erinnerte sich, wie sie die Schwelle zu ihrem alten Leben überschritten und sich gefragt hatte, was sie dort wiederfinden würde. Und sie lachte spöttisch, mit zugeschnürter Kehle. In ihren wildesten Phantasien, ihren schlimmsten Alpträumen hätte Sie sich ein so grausames, so hoffnungsloses Szenario nicht vorstellen können. Kein Wunder, daß sie geflohen war.
    Sie sah sich ins Wohnzimmer treten, zum Klavier gehen, mit ungeschickten Fingern eine kleine Melodie von Chopin spielen; sah, wie sie verschiedene Fotografien in die Hand nahm, unter ihnen drei Klassenfotos kleiner Jungen und Mädchen, die nach
Größe geordnet in Reih und Glied vor der Kamera standen. Ein kleiner Junge in der vorderen Reihe hielt eine Tafel in die Höhe, auf der >Arlington Private School< stand. Jane hatte lächelnd das zarte kleine Mädchen mit dem langen, hellbraunen Haar und den großen Augen betrachtet, das, ganz in Gelb gekleidet, in der letzten Reihe stand, und ihr Blick war weiter gewandert zu demselben kleinen Mädchen auf dem nächsten Foto, das das Haar diesmal zum Pferdeschwanz hochgebunden trug, und weiter zur nächsten Aufnahme, zu demselben kleinen Mädchen, diesmal mit offenem Haar, ganz in Schwarzweiß, das Lächeln nicht mehr ganz so vertrauensvoll, eher etwas vorsichtig. Kindergarten, Vorschule, erste Klasse. Klasse zwei fehlte. »Wir haben anscheinend kein Foto bekommen«, hatte Michael zu ihr gesagt. »Vielleicht war sie an dem Tag krank.«
    Wieso war es ihr nicht aufgefallen, daß die jüngsten

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