Lauf, Jane, Lauf!
helfen dir. Michael und ich und alle deine Freunde. Wir sorgen dafür, daß du bald wieder gesund wirst.«
»Lies ihr doch die Karte vor«, meinte Michael und reichte Diane eine bunte Ansichtskarte.
»Es ist eine Karte von Howard und Peggy Rose«, erklärte
Diane mit übertriebener Munterkeit. »Aus Frankreich.« Sie hielt Jane die Vorderseite der Karte vor die Augen, ein kleines Cafe an einem aquamarinblauen Meer. »Hm, das ist schlecht zu lesen. Die Schrift ist so klein. Also: >Alle Jahre wieder - liebe Grüße aus Südfrankreich. Es ist so schön wie immer, und es geht uns prächtig...<« Sie stockte. »>... wie Euch hoffentlich auch im langweiligen Boston. Packt doch einfach Eure Sachen und überrascht uns hier. Wir mögen Überraschungen. Und Euch mögen wir besonders. Hoffentlich geht’s Euch gut. Also dann, bis zum September. Howard und Peggy.< Das war nett«, sagte Diane, und ihre Munterkeit löste sich in einer Tränenflut auf.
Ein Überraschungsbesuch, dachte Jane, und ihr fiel der Überraschungsbesuch ein, den sie angeblich ihrem Bruder gemacht hatte. Sie versuchte, ihn sich irgendwo in Spanien vorzustellen, aber es gelang ihr nicht, sein Gesicht heraufzubeschwören. Von ihrer Schwägerin hatte sie da schon ein klareres Bild. Gargamella, dachte sie und lachte laut.
»O Gott, Michael!« rief Diane. Sie streckte den Arm aus, um Jane das Gesicht zu streicheln. »Was war das für ein Laut? Das klang überhaupt nicht menschlich.«
»Jane, geht es dir gut?«
Es geht mir bestens, antwortete Jane stumm. Ich möchte nur, daß alle fortgehen und mich in Ruhe lassen, damit ich in Frieden sterben kann.
»Möchtest du ein Glas Ginger Ale?« fragte Michael fürsorglich. »Oder vielleicht etwas zu essen? Paula hat einen köstlichen Heidelbeerkuchen gebacken.«
Paulas Apfelkuchen ist mir lieber. Jane dachte an den Tag, als sie Paula mit dem Messer in Schach gehalten hatte, das sie benutzt hatte, um Äpfel zu schnitzeln. Die guten alten Zeiten, dachte Jane und wünschte jetzt, sie hätte sich selbst das Messer in den Bauch gestoßen und bis zum Herzen hinauf geschraubt.
Vielleicht war es noch nicht zu spät. Vielleicht war es immer
noch einen Versuch wert. Vielleicht konnte sie ihrem Mann und ihrer Freundin klarmachen, daß sie wirklich gern ein Stück von Paulas Heidelbeerkuchen hätte, ihn aber lieber in der Küche essen würde. Und wenn sie dann alle gemütlich am Tisch saßen, eingelullt von einem falschen Gefühl der Sicherheit, würde sie das Messer packen und sich fein säuberlich durchbohren. Das Blut würde ihr über das Kleid strömen. Ihr eigenes Blut. So wie es sich gehörte.
Aber sie sagte nichts, sondern beobachtete sie nur stumm, wie sie sie mit angstvoll verwirrten Blicken anstarrten. Es wäre für alle Beteiligten viel besser gewesen, wenn sie einfach verschwunden wäre, wenn niemand sie gefunden, erkannt, nach Hause gebracht hätte. Michael hätte sich irgendwann von ihr scheiden lassen - Gründe hatte er weiß Gott genug. Ihre Freunde hätten noch eine Weile von ihr gesprochen und sich dann anderen, interessanteren Themen zugewandt. Nach einiger Zeit wäre sie wie Emily nur noch eine Erinnerung gewesen. Die Frau ohne Erinnerung nur noch eine Erinnerung. Sie lachte wieder.
Diesmal äußerte sich das Lachen in Form eines unterdrückten Seufzers. Diane faßte tröstend ihre Hand. »Bist du sicher, daß sie keine Schmerzen hat, Michael?«
»Ganz sicher.«
»Ich fühle mich so hilflos...«
»Das geht uns allen so.«
Jane hätte gern das Gesicht ihrer Freundin mit beiden Händen umfaßt und sie sachte auf beide Wangen geküßt, um ihr damit zu sagen, daß alles sich zum Guten wenden würde. Aber sie wußte, wenn sie etwas sagte oder tat, und sei es nur etwas so Unbedeutendes, wie der Freundin über das Haar zu streichen, würde sie falsche Signale aussenden, falsche Hoffnungen wecken. Es gab keine Hoffnung. Das wußte sie jetzt. Es gab keine Hoffnung, und es war sinnlos, so zu tun, als gäbe es welche.
Sie hoffte nicht mehr auf die Rückkehr ihrer Erinnerungen.
Im Gegenteil, sie ging jeden Abend mit dem verzweifelten Wunsch zu Bett, daß sie niemals wiederkehren würden. Sie wußte alles über sich, was sie wissen mußte. Wenn es einen Gott gab und er ein gnädiger Gott war, würde er sie nicht zwingen, noch einmal den Tod derer zu erleben, die ihr einst lieb und teuer gewesen waren. Er würde ihr erlauben, sich in einen Kokon stumpfsinniger Betäubung zurückzuziehen, bis sie wieder
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