Lauf, Jane, Lauf!
wenn man dem Mann im Radio glauben sollte. Sie glaubte ihm nicht. Es schien heißer zu sein. Entschieden schwüler. Die Sonne brannte auf ihren Kopf hinunter, und die Hitze schloß ihn ein wie ein glühender Helm. Sie wollte schreien, um sich schlagen, sich aus der Umklammerung befreien. Aber die Sonne packte nur fester zu, senkte ihre Glut tiefer in sie hinein, und sie wußte, daß jeder Protest eine Verschwendung kostbarer Energie gewesen wäre. Vorsichtig wie ein Fisch, der nach Luft schnappt, öffnete sie den Mund, um Sauerstoff in ihre Lunge zu ziehen, aber sie schluckte nur glühende Hitze, so als stünde sie direkt über einem dampfenden Wasserkessel. Ihre Zunge brannte, und ihre Augen tränten.
»Alles in Ordnung? Möchtest du einen Moment ausruhen?«
Sie schüttelte den Kopf. Wozu rasten? Sie würden sich ja doch wieder in Bewegung setzen müssen. Der ganze blöde Ausflug würde nur um so länger dauern. Nein, je eher sie das Geld holten, das sie versteckt hatte, desto früher konnte sie sich wieder ins Auto setzen, desto früher würde sie nach Hause kommen, in
ihr Bett, zu den erlösenden Medikamenten, die ihr Vergessen schenkten und ihr halfen, jeden Tag zu überstehen. Daß sie sich einmal gegen sie gewehrt hatte!
»Vorsichtig jetzt. Achte auf die Stufe.«
Jane senkte den Kopf und beobachtete ihre Füße, die einer nach dem anderen die Schwelle zur großen Wartehalle überquerten. Plötzlich wimmelte es von Menschen, solchen, die zu ihren Bussen rannten, anderen, die froh waren, den Bussen entronnen zu sein. Keiner schien sie zu bemerken wie beim ersten Mal, als sie hierher gekommen war. Die unsichtbare Frau, dachte sie, während sie sich von Michael weiterziehen ließ.
Wenig später stand sie schwitzend an eine Wand von Schließfächern gelehnt und sah zerstreut zu, wie Michael und die Schalterangestellte ihre Schlüssel in die entsprechenden Schlüssellöcher schoben. Sie sah, wie Michael die Schließfachtür aufzog, wie sein Lächeln breiter wurde, als er in das Fach hineingriff, um die Wäschetüte aus dem Lennox Hotel herauszuziehen. Während die Angestellte an ihren Platz hinter der Theke zurückkehrte, um die Nachzahlung zu errechnen, öffnete Michael die Plastiktüte, und Jane bemerkte den Ausdruck der Bestürzung, der über sein Gesicht flog, als sein Blick auf das zusammengeknüllte, blutverkrustete blaue Kleid fiel. Ihr schoß der Gedanke durch den Kopf, daß sie - abgesehen von allen anderen psychischen Defekten - offenbar an einem Identitätsproblem litt. Wie konnte ein und dieselbe Frau heute elegante Anne-Klein-Kleider tragen und am nächsten Tag im putzigen Matrosenanzug herumlaufen? Sie wartete, während Michael bezahlte, und ließ sich von ihm zum nächsten Abfalleimer schleppen, wo er vorsichtig das Kleid aus der Tüte nahm und in den Container fallen ließ. Er faltete die Tüte mit dem Geld, das sie ihm gestohlen hatte, zu einem säuberlichen kleinen Päckchen, das er so lässig unter den Arm klemmte, als wäre er es gewöhnt, große Barsummen auf diese Art und Weise zu befördern.
Dann drängten sie sich wieder durch das Menschengewimmel, Michael mit höflichem Nicken nach links und rechts, einem Lächeln für einen vorüberkommenden Polizisten, freundlicher Aufmerksamkeit für eine mit Koffern beladene ältere Frau, der er die Tür aufhielt.
Als sie wieder auf der Straße waren, glaubte sie, Michael würde sie zum Parkplatz zurückführen, mit der Selbstverständlichkeit, mit der ihm alles zu gelingen schien, ihren Wagen ausfindig machen und sie nach Hause fahren. Aber sie bogen nicht in die St. James Avenue ein, sondern gingen weiter, vorbei an der Bolyston Street zur Newbury Street.
»Wohin gehen wir?« fragte sie und versuchte, mit ihm Schritt zu halten.
»Ich habe meiner Frau doch einen Einkaufsbummel versprochen.«
»Ach, Michael, ich glaube, das wird mir zuviel.«
Er schien sie nicht gehört zu haben. Weiter ging es die elegante Einkaufsstraße hinunter. Michael pfiff vor sich hin, tat so, als bemerkte er ihre schlurfenden Schritte und ihr Unwohlsein überhaupt nicht, obwohl sie genau wußte, daß er nur versuchte, sie aus ihrer Lethargie zu reißen.
»Ich bin wirklich nicht in der Stimmung für einen Einkaufsbummel«, sagte sie, während er sie an den Schaufenstern teurer Läden vorbeiführte und sie die Situation nur absurd fand.
Die Straße war voller Menschen, viele mit Einkaufstüten beladen, und Jane überlegte, ob auch welche voller Hundert-Dollar-Scheine
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