Lauf, Jane, Lauf!
zugeben, daß das der Fall war. »Aber trotzdem«, protestierte sie, »heißt da doch wohl noch lange nicht, daß Emily sexuell mißbraucht wird.«
»Sicher, wenn es nur das wäre, würde ich mir keine Gedanken machen«, stimmte Pat Rutherford zu. »Aber das ist eben nicht alles.«
Jane sagte nichts, bedeutete der Lehrerin nur mit einem Nikken fortzufahren.
»Eines Tages habe ich sie in der Pause beim Puppenspielen im Vorschulzimmer beobachtet. Das ist an sich nichts Besonderes. Viele Kinder gehen gern mal zum Spielen dorthin. Solange sie alles wieder aufräumen, ist das kein Problem. Aber die Art und Weise, wie Emily mit den beiden Puppen spielte, veranlaßte mich, ihr genauer zuzusehen. Sie war völlig absorbiert von ihrem Spiel.«
»Was war das für ein Spiel?«
»Sie berührte die Puppen an der Brust und zwischen den Beinen und rieb sie aneinander.«
»Kann das nicht ganz normale kindliche Neugier sein?« unterbrauch Jane mit wachsendem Zorn. Wie kam diese unerfahrene Person dazu, aus kindlicher Neugier und Experimentierfreude einen Fall von sexuellem Mißbrauch zu konstruieren!
»Sicher, das ist möglich. Daran habe ich auch gedacht. Ich habe selbstverständlich nicht gleich angenommen, daß hier ein Mißbrauch vorliegt. Ich hielt es für ebenso wahrscheinlich, daß sie einfach Verhaltensweisen nachahmt, die sie im Fernsehen oder im Kino gesehen hat.«
Jane schüttelte den Kopf. Sie achtete genau darauf, was Emily sich im Fernsehen ansah, und ließ sie niemals allein ins Kino gehen. Weder im Fernsehen noch im Kino konnte sie so etwas gesehen haben. Aber sie hatte natürlich Augen im Kopf. Sie interessierte sich zweifellos für ihren eigenen Körper. Und es gab immer Kinder, die weiter waren und alles mögliche erzählten.
»Sie hat wahrscheinlich von irgendeinem anderen Kind etwas aufgeschnappt«, meinte Jane, eisern beherrscht, obwohl sie Pat Rutherford am liebsten an die Gurgel gesprungen wäre für ihre unbegründeten Anschuldigungen.
»Mrs. Whittaker, glauben Sie mir, ich sage das alles nicht leichtfertig«, bemerkte Emilys Lehrerin, als hätte sie Janes Gedanken
gelesen. »Ich denke seit Monaten darüber nach, wie ich diese Sache am besten anpacken kann. Mr. Secord hat mich viele Male daran erinnert, daß Ihr Mann ein hochangesehener Mann ist, daß er zu den Mäzenen der Schule gehört. Und ich weiß, wie sehr Sie selbst sich für die Belange der Schule einsetzen. Das ist der Grund, weshalb ich es Ihnen nicht schwerer machen wollte als unbedingt nötig. Es kann gut sein, daß es für alles eine logische Erklärung gibt.«
»Für alles? Bis jetzt habe ich kaum etwas gehört. Jedenfalls nichts, was mich zu der Schlußfolgerung veranlassen würde, daß mein Kind das Opfer eines sexuellen Mißbrauchs ist.«
»Ich bin noch nicht fertig.«
Jane schwieg. Sie saß wie auf Kohlen.
»Ich hätte die ganze Geschichte vielleicht fallenlassen, wenn nicht die Sache letzte Woche gewesen wäre.«
»Was war denn letzte Woche?«
»Als ich ins Klassenzimmer kam, sah ich hinten Emily mit einem anderen kleinen Mädchen. Sie hatte eine Hand auf der Schulter des Mädchens und die andere auf ihrer Brust...«
»Das ist doch lächerlich! Zwei kleine Mädchen, die sich gegenseitig...«
»Es war weniger das, was Emily tat, als das, was sie sagte, was mich stutzig machte.«
»Wieso? Was sagte sie denn?«
»Sie flüsterte: >Du bist so schön. Du bist so weich und süß, daß ich dich einfach anfassen muß.<«
»Was?«
»Ich weiß, daß das ihre genauen Worte waren. Ich habe sie aufgeschrieben. Ich meine, so etwas sagt doch normalerweise ein Kind nicht zum anderen. Es hört sich eher so an, als plapperte sie etwas nach, das sie von einem Erwachsenen gehört hat. Entweder hat sie es zufällig belauscht, oder es hat jemand zu ihr selbst gesagt. Ich weiß es nicht. Mir ist klar, daß das für Sie ein großer
Schock ist, Mrs. Whittaker, und daß Sie wahrscheinlich sehr böse auf mich sind. Ich weiß, daß ich im Grund keinerlei Beweise habe. Aber ich habe mir wirklich den Kopf darüber zerbrochen, was ein normalerweise fröhliches und kontaktfreudiges Kind so still und in sich gekehrt machen könnte; was eine Siebenjährige so stark sexualisieren könnte. Mir fallen einfach keine anderen Möglichkeiten ein. Es sei denn...«
»Ja? Was?«
»Es sei denn, sie hat vielleicht ihre Babysitterin mit ihrem Freund beobachtet. Ist das möglich? Vielleicht kam sie unvermutet aus ihrem Zimmer und ertappte die Babysitterin mit
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