Lauf, Jane, Lauf!
»Warten Sie schon lange?« Sie schien nervös zu sein.
»Nein, nein, ich bin eben erst gekommen.«
»Gut.« Pat Rutherford strich sich mit einer Hand das lange blonde Haar hinter das Ohr, und ein großer silberner Ohrring kam zum Vorschein. »Ich danke Ihnen, daß Sie gekommen sind. Ich hoffe, der Termin kam Ihnen nicht ungelegen.«
»Nein, nein. Gibt es denn Probleme mit Emily?«
Sie erwartete eine rasche Verneinung und war bestürzt, als die Lehrerin zögerte.
»Ist etwas nicht in Ordnung?«
Wieder zögerte Pat Rutherford, dann sagte sie: »Ich weiß es nicht genau. Deswegen wollte ich mit Ihnen sprechen. Deshalb bat ich Sie, heute zu kommen und nicht mit den anderen Eltern zusammen am Freitag.«
»Worum geht es?«
»Bitte nehmen Sie doch Platz.«
Jane versuchte, es sich in einer der kleinen Schulbänke vor Pat Rutherfords Pult bequem zu machen. Die Lehrerin setzte sich nicht. Sie ging hin und her, blieb gelegentlich stehen und lehnte sich an ihr Pult. Ihre dunklen Augen verrieten Unsicherheit.
»Sie machen mich richtig nervös«, gestand Jane, die sich fragte, was die Frau ihr zu sagen haben könnte.
»Das tut mir leid. Ich bin sonst nicht so zögernd, aber ich weiß ganz einfach nicht, wie ich Ihnen das sagen soll.«
»Direktheit ist meistens die beste Methode.«
»Hoffentlich haben Sie recht.« Sie schwieg einen Moment.
»Wissen Sie, ich bin mir nicht einmal sicher, ob es richtig ist, mit Ihnen zu sprechen.«
»Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
»Ich unterrichte im ersten Jahr«, erklärte Pat Rutherford. »Ich hatte nie mit so etwas zu tun und bin mir nicht im klaren über das korrekte Verfahren.«
»Was für ein Verfahren?«
»Ich glaube, normalerweise müßte ich meine Vermutungen den Behörden mitteilen...«
»Den Behörden? Mein Gott, was vermuten Sie denn?«
»Aber eine Freundin von mir hat damit schlechte Erfahrungen gemacht - da kreuzten zwei Kriminalbeamte auf, schüchterten das Kind völlig ein, in der Schule kursierten die wildesten Gerüchte, die Eltern waren fuchsteufelswild, und meine Freundin hätte beinahe ihren Posten verloren. Und geändert hat sich gar nichts.«
»Wovon sprechen Sie?« Jane saß bis aufs Äußerste angespannt auf der Kante des kleinen Stuhls.
»Ich bin gern Lehrerin. Ich möchte meine Stellung nicht verlieren. Darum hielt ich es für besser, nicht gleich zu den Behörden zu gehen, sondern zuerst mit dem Direktor zu sprechen.«
»Mit Mr. Secord, meinen Sie?«
»Ja.«
»Aber worüber haben Sie denn nun mit ihm gesprochen?«
»Ich glaube, daß Emily sexuell mißbraucht wird.«
Die Worte trafen Jane wie Dolchstöße. Im ersten Moment fuhr sie zurück, dann krümmte sie sich so heftig zusammen, daß sie beinahe von dem kleinen Stuhl gestürzt wäre. Nur die Kante der Schulbank, die schmerzhaft ihre Rippen traf, hielt sie auf. Ich muß mich verhört haben, dachte sie, während sie um Fassung rang. Das kann sie nicht gesagt haben.
»Was sagten Sie?«
Pat Rutherford ließ sich auf den Stuhl hinter ihrem Pult sinken.
»Ich glaube, Emily wird sexuell mißbraucht«, wiederholte sie.
Jane stockte der Atem. Sie meinte zu ersticken. Das kann nicht sein, dachte sie. Nein, das ist ganz ausgeschlossen. Das gibt es nicht.
»Wie kommen Sie denn darauf?« fragte sie, als sie wieder sprechen konnte.
»Ich habe keine konkreten Beweise, das ist einer der Gründe, weshalb Mr. Secord mir dringend abriet, die Behörden einzuschalten. Er machte mich mehrmals darauf aufmerksam, daß ich kaum Erfahrung besitze. Es könnte alle möglichen Gründe für Emilys verändertes Verhalten geben. Aber irgend etwas sagt mir, daß das der Grund ist. Alles, was ich darüber gelesen habe...«
»Hat Emily Ihnen gesagt, daß sie...«, die Worte blieben Jane im Hals stecken, »daß sie sexuell mißbraucht wird«, flüsterte sie.
»Nein«, antwortete Pat Rutherford, und Jane atmete erleichtert auf. Die Frau mußte sich getäuscht haben, hatte sich von Dingen, die sie gelesen hatte, zu voreiligen Schlüssen verleiten lassen. »Aber das Verhalten, das sie in letzter Zeit zeigt, entspricht dem eines sexuell mißbrauchten Kindes.«
»Inwiefern? Was ist das für ein Verhalten?«
Wieder zögerte Pat Rutherford. »Nun ja, sie ist in letzter Zeit auffallend still. Sie war immer sehr lebhaft und aufgeweckt, voller Begeisterung, immer vergnügt. In letzter Zeit ist sie, wie gesagt, auffallend still und in sich gekehrt. Beinahe traurig. Ist Ihnen das zu Hause auch aufgefallen?«
Jane mußte
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