Lauf, Jane, Lauf!
ihrem Freund auf dem Sofa. Vielleicht hat sie gehört, was die beiden sagten.«
Jane überlegte, ob das möglich sei. Caroles Kinder kamen ziemlich regelmäßig zum Babysitten. Konnte es sein, daß Celine abends einmal ihren Freund ins Haus geholt hatte, als sie und Michael aus gewesen waren?
»Gibt es bei Ihnen in der Nachbarschaft halbwüchsige Jungen?« fragte Pat Rutherford. »Vielleicht hat sich von ihnen einer an Emily herangemacht und versucht, sie zu irgend welchen Dummheiten zu überreden...««
Andrew Bishop, hochaufgeschossen und schlaksig, kam ihr in den Sinn. War es möglich, daß Caroles Sohn ihr kleines Mädchen belästigt hatte?
Sie sprang mit solcher Entschlossenheit von ihrem Platz auf, daß der Stuhl beinahe umgestürzt wäre. »Ich muß mit Emily sprechen.«
»Ich hoffte, daß Sie das sagen würden.«« Pat Rutherford war sichtlich erleichtert. »Emily ist beim Mittagessen. Ich kann in den Saal hinuntergehen und sie heraufholen, wenn Sie das möchten.«
»Bitte.
Ohne ein weiteres Wort ging Pat Rutherford hinaus. Sobald
sie weg war, schlug Jane mit der Faust krachend auf das Pult der Lehrerin. Einige lose Papiere flatterten zu Boden. »Verdammt, verdammt, es kann nicht wahr sein«, sagte sie immer wieder. »Es kann einfach nicht wahr sein.«
Sie begann, vor dem Pult hin und her zu gehen, wie Pat Rutherford das noch vor wenigen Minuten getan hatte. Wie ist das möglich? fragte sie sich. Wie kann das sein? Es gab nur eine Antwort - es konnte nicht sein. Pat Rutherford hatte auf eine Situation, die sich in ein paar Minuten zweifellos als völlig harmlos erweisen würde, übertrieben reagiert.
In ein paar Minuten, dachte sie, in ein paar Minuten kann sich ein ganzes Leben verändern. Eben noch war sie wunschlos glücklich gewesen, fühlte sich vom Schicksal verwöhnt, und im nächsten Moment - im nächsten Moment lag ihre ganze Welt in Trümmern. Und alles wegen eines einzigen Satzes: Ich glaube, Emily wird sexuell mißbraucht.
Nein, es konnte nicht sein.
Oder doch? War es möglich, daß Caroles Kinder, vielleicht ganz unwissentlich, an Emilys verändertem Verhalten schuld waren? Hatte Celine vielleicht eines Abends, als sie zum Babysitten im Haus gewesen war, ihren Freund kommen lassen? Möglich, dachte Jane, aber unwahrscheinlich. Wenn man Carole glauben durfte, ging Celine selten aus und hatte keinen festen Freund, sehr zu ihrem eigenen Kummer. Und Andrew? Konnte der sich wirklich ihrem Kind aufgedrängt haben? Der Junge machte immer den Eindruck, als wären Mädchen das Letzte, was ihn interessierte. Er schien nur Basketball und Baseball im Kopf zu haben. Emily pflegte er kaum zu beachten. Dennoch war es naheliegend, ihn zu verdächtigen. Lieber Gott, jammerte Jane im stillen. Ich bring ihn um. Ich bring diesen verdammten Kerl mit eigenen Händen um.
»Mami? Hallo, Mami!« Emily lief ihr entgegen. Jane ging in die Knie und nahm sie in die Arme. »Aua!« protestierte Emily,
und Jane wurde sich bewußt, wie fest sie die Kleine an sich gedrückt hatte. Sie ließ sofort locker.
»Wie geht’s dir, Frosch?«
»Gut. Ich hab Jodie meinen Apfel geschenkt. Das durfte ich doch, oder?«
»Aber natürlich.« Jane strich Emily einige Härchen aus dem süßen Gesicht und führte sie zu einer der Schulbänke. »Komm, unterhalten wir uns ein Weilchen.«
Pat Rutherford, die an der Tür stehengeblieben war, bedeutete ihr, daß sie im Korridor warten würde.
»Aber das ist nicht meine Bank, Mami«, sagte Emily. Sie führte Jane in die zweite Reihe und zeigte ihr stolz die Bank, in der sie saß.
Jane schob sich mühsam auf den kleinen Sitz. »ich muß dich was fragen, Emily«, begann sie und bemühte sich, ruhig zu sprechen. »Und du mußt mir die Wahrheit sagen. In Ordnung?«
Emily nickte.
»Ich werde nicht böse, ganz gleich, was du mir sagst. Okay? Du brauchst überhaupt keine Angst zu haben. Du kannst mir alles sagen. Es ist sehr wichtig, daß du mir genau erzählst, was geschehen ist.«
»Ja, Mami.«
»Emily, wenn Celine zum Babysitten kommt, bekommt sie dann manchmal Besuch?«
Emily schüttelte den Kopf, und die Härchen, die Jane ihr aus dem Gesicht gestrichen hatte, fielen ihr wieder in die Stirn.
»Sie hat nie von einem Freund Besuch bekommen, wenn wir aus waren?«
»Nein. Sie spielt immer mit mir.«
»Und Andrew?«
»Der kommt doch gar nie zum Babysitten.«
»Aber letztes Jahr war er ein paarmal da.«
»Ach ja, stimmt.«
»Aber er hatte auch nie Besuch«, sagte Jane.
»Nein.
Weitere Kostenlose Bücher