Lauf, Jane, Lauf!
das Fleisch auf. Es sah aus, als würde sie ihm die ganze Kopfhaut abschälen.
Jane ließ die Vase los und hörte sie krachend zu Boden fallen, während sie mit entsetzt aufgerissenen Augen, das Blut von Michaels Kopf herabströmen sah. Er torkelte ihr entgegen, sein Gesicht eine totenbleiche Maske voll Ungläubigkeit und Schmerz. »Mein Gott, Jane, du hast mich umgebracht.«
Er fiel gegen sie, suchte Zuflucht an ihrer Brust, und als sie zurückfuhr, rutschten langsam seine Füße unter ihm weg, und er glitt zu Boden.
»Nein!« schrie sie, als sie ihr Kleid sah, das vorn von Blut getränkt war. Fest zog sie den Trenchcoat um sich und knöpfte ihn mit zitternden Händen zu. »Das ist nicht wahr!« Sie lief zur Tür. »Das ist nicht wahr.« Sie ging aus dem Zimmer nach vorn, ohne sich umzudrehen. »Es ist ein schöner Tag. Ich muß an die frische Luft. Einen Spaziergang machen. Milch und Eier besorgen. Ich habe Emily ja versprochen, einen Schokoladenkuchen zu backen. Ja, das ist eine gute Idee.« Sie riß die Haustür auf und rannte hinaus, ohne die Tür hinter sich zu schließen. »Ja, es ist ein schöner Tag«, wiederholte sie, während sie die Straße hinunterlief zur nächsten Bushaltestelle. Es war ein schöner Tag. Es wäre eine Schande gewesen, ihn drinnen zu vertrödeln.
29
Jane senkte die Kristallvase, die sie noch immer in den Händen hielt, und stellte sie wieder auf den Couchtisch. Paula ließ sich auf das Sofa sinken. Carole starrte Jane ungläubig an.
»Das ist ja eine tolle Geschichte«, sagte sie nach einer ziemlich langen Pause.
Jane sagte nichts. Sie war noch zu überwältigt von der Person, die sie einmal gewesen war. Es war, als hätte sie sich ihr Leben lang für eine Waise gehalten, nur um sich plötzlich den Eltern und einer Vielzahl von Geschwistern gegenüberzusehen, die sie nie gekannt hatte. Alles, was sie einmal gewesen war, woran sie geglaubt hatte, alle, die sie je geliebt hatte - alle waren sie plötzlich präsent und kämpften um ihre Aufmerksamkeit. Ihre Mutter war da, sogar ihr Vater. Ihr Bruder Tommy. Gargamella. Die Kinder der beiden. Ihre Freunde. Die gemeinsamen Erlebnisse. Die Schulen, die sie besucht hatte. Ihr erster Abend mit Michael, fast so, wie er ihn beschrieben hatte. Ihre Hochzeit. Die Jahre ihres gemeinsamen Lebens. Ihre Schwangerschaft. Die Geburt ihrer Tochter. Emilys erster Geburtstag. Ihr erster Schultag. Der letzte, an dem sie Emily versprochen hatte, sie nach der Schule abzuholen.
Vermutlich hatte Michael sie an ihrer Stelle abgeholt. Jane wollte sich nicht vorstellen, wie Emily zumute gewesen sein mußte, als sie nach der Schule ihren Vater und nicht ihre Mutter gesehen hatte, aber sie zwang sich, das Bild anzusehen. Wer die Realität verleugnet, riskiert sie ganz zu verlieren. Das wenigstens mußte sie doch gelernt haben.
Ihr dröhnte der Kopf, ob vom Schock der plötzlichen Erinnerungsglut oder von der anhaltenden Wirkung der Betäubungsmittel in ihrem Körper, konnte sie nicht sagen. Sie hielt sich an dem Ohrensessel fest, um nicht zu stürzen, und ignorierte Paula,
die immer noch wie versteinert auf dem Sofa saß, um sich ganz auf Carole zu konzentrieren.
»Du mußt mich nach Woods Hole fahren«, sagte sie.
Carole schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht.«
»Du glaubst mir immer noch nicht?«
»Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll.«
»Carole, wir kennen uns schon ziemlich lange. Ich dachte, wir wären gute Freundinnen.«
»Das dachte ich auch.«
»Aber du glaubst lieber Michael.«
»Es fällt mir schwer zu glauben, was du da eben erzählt hast.«
»Daß er seine Tochter belästigt hat?«
»Er ist Kinderarzt! Sein Beruf ist es, Kindern zu helfen.«
»Ich weiß, es ist schwer zu glauben.«
»Nicht schwer. Unmöglich«, erklärte Carole.
»Du glaubst also lieber, daß ich verrückt bin.«
»Ehrlich gesagt ja. Auf diese Weise bleibt die Welt um einiges freundlicher.« Carole fuhr sich mit der Hand durch die zerzausten Locken. »Und du mußt zugeben, Jane - zu vergessen, wer man ist, zeugt nicht gerade von einem gesunden Verstand.«
Jane lächelte, lachte beinahe. »Da kann ich nicht widersprechen. Aber ich weiß jetzt, wer ich bin. Ich weiß, was an dem Tag geschehen ist. Ich weiß, wie dringend Emily mich braucht. Ich weiß jetzt auch wieder, wie ich nach Woods Hole komme. Ich bin nur nicht sicher, ob ich die Fahrt alleine schaffen kann. Ich bitte dich, mir zu helfen.«
Wieder schüttelte Carole den Kopf. »Ich kann
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