Lauf, Jane, Lauf!
nicht.«
Eine Welle der Übelkeit überschwemmte Jane. Sie schwankte unsicher. »Dann leih mir wenigstens deinen Wagen.«
»Was hast du mit Paulas Wagen angestellt?« fragte Carole.
Paula selbst sagte kein Wort. Sie hielt die Augen zu Boden gesenkt und saß so starr, als hätte die Wucht von Janes Worten ihr alle Bewegungsfähigkeit geraubt.
»Der ist mir stehengeblieben. Bitte gib mir doch deine Wagenschlüssel.«
»Warum rufst du nicht die Polizei an?« fragte Carole statt einer Antwort. »Wenn das alles stimmt, was du gesagt hast, solltest du dort Hilfe suchen.«
»Ich werde zur Polizei gehen - aber erst, wenn ich Emily gefunden habe. Wenn ich jetzt dort anrufe, werden sie nur mit Michael sprechen wollen. Es hat es geschafft, dich davon zu überzeugen, daß ich verrückt bin; was glaubst du wohl, wie schwer es ihm fallen wird, auch die Polizei davon zu überzeugen? Bestenfalls werden sie mich stundenlang verhören, und in dieser Zeit kann Michael Emily ungehindert wegbringen, und ich werde sie nie wiederfinden. Das kann ich nicht riskieren. Ich muß mein Kind wiederfinden. Ich muß wissen, daß Emily nichts passieren kann. Bitte, Carole! Gib mir die Schlüssel zu deinem Wagen.«
»Suchen Sie die?« fragte plötzlich Caroles Vater. Er stand an der Tür, in der einen Hand Caroles offene Handtasche, in der anderen die Autoschlüssel.
»Vater! Gib sofort die Schlüssel her!« Mit einem Satz war Carole bei ihrem Vater. Aber als sie die Hände nach den Schlüsseln ausstreckte, warf der alte Cobb sie in hohem Bogen über ihren Kopf hinweg in Janes erhobene Hände.
»Eins, zwei, drei, wer hat den Ball?« rief er freudestrahlend.
Jane griff die Schlüssel aus der Luft und rannte zur Haustür, während der alte Cobb vor seiner schimpfenden Tochter hin und her sprang und sie nicht zur Tür hinausließ. Sie schloß den pflaumenfarbenen Chrysler auf, sprang hinein, ließ den Motor an und gab Gas.
Im Rückspiegel sah sie Carole, die wild gestikulierend aus dem Haus stürzte, aber gleich wieder umkehrte, als sie erkannte, daß sie zu spät kam. Jetzt ruft sie Michael an, dachte Jane. Sie sah auf ihre Uhr. Um diese Zeit war er normalerweise noch im Operationssaal, und da durfte man ihn nicht stören. Aber vielleicht würden
sie ihn doch herausholen, wenn die Angelegenheit sehr dringend war. Sie trat das Gaspedal weiter durch, warf automatisch einen Blick auf die Tankanzeige und stellte erleichtert fest, daß der Tank voll war. Würde Carole ihren Wagen als gestohlen melden? Würde vielleicht schon an der nächsten Kreuzung die Polizei sie erwarten?
Sie wollte lachen und merkte, daß sie dem Weinen viel näher war. Aber nein! Sie würde nicht weinen. Jetzt nicht! Sie hatte genug geweint. Jetzt hatte sie Wichtigeres zu tun. Vor allem mußte sie unbedingt wach bleiben, auch wenn ihr die Lider noch so schwer waren.
Sie schaltete das Radio ein und hörte sich ein paar Sekunden lang den schleppenden Gesang irgendeines tieftraurigen Country-Sängers an. Dann schaltete sie auf einen anderen Sender. So etwas Einschläferndes konnte sie nicht gebrauchen. Jetzt mußt Hardrock her, etwas, das sie aufmöbelte und richtig auf Touren brachte.
Befriedigt hörte sie den Ansager den neuesten Song einer Hardrock Gruppe namens Rush ankündigen. Das war gut. Die Jungs würden ihr die Ohren so volldröhnen, daß sie gewiß nicht einschlafen würde. Sie stellte das Radio noch ein wenig lauter und nahm das Gas weg, als sie sich auf dem Weg zum Highway 30 dem Zentrum von Newton näherte. Nur jetzt nicht wegen zu schnellen Fahrens angehalten werden!
Das fehlte gerade noch, dachte sie, während sie die Walnut Street in nördlicher Richtung hinauftuckerte. Erstens hatte sie ihren Führerschein nicht dabei, und zweitens fuhr sie einen gestohlenen Wagen. Wenn die Bullen sie erwischten, würden sie sie bestimmt nicht weiterfahren lassen, und ein solcher Zwischenfall, dachte sie bitter, käme Michael nur zugute. Ein weiterer Beweis dafür, daß sie eine untaugliche Mutter war.
Auf dem Highway fuhr sie nach Osten, in Richtung Boston. Danach würde es ein bißchen kompliziert werden; sie würde aufpassen
müssen, daß sie sich nicht verfranste. Sonst war immer Michael gefahren, wenn sie seine Eltern besucht hatten. Sie kannte zwar den Weg, aber es war doch etwas anderes, die Strecke selbst fahren zu müssen. Außerdem wußte sie nicht einmal, ob sie durchhalten würde. Sie konnte nur hoffen, daß Mutterinstinkt und Adrenalin ihr die nötige Kraft
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