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Lauf, Jane, Lauf!

Titel: Lauf, Jane, Lauf! Kostenlos Bücher Online Lesen
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geben würden.
    Von Boston aus würde sie noch ungefähr anderthalb Stunden Fahrt vor sich haben, vielleicht auch ein wenig mehr, es kam ganz auf den Verkehr an. Jetzt war es zehn. Sie würde um die Mittagszeit ankommen, wenn alles gut ging. Ob Michaels Eltern sie wohl zum Essen einladen würden? Sie kicherte vor sich hin, wurde aber gleich wieder ernst. Nur jetzt nicht durchdrehen.
    Aber was für ein Empfang würde sie tatsächlich erwarten? Was hatte Michael seinen Eltern erzählt? Was wußten sie?
    Die guten alten Whittakers. Jane sah sie vor sich, Mr. und Mrs. Whittaker, Seite an Seite, aber immer auf Distanz, immer darauf bedacht, einander nur ja nicht zu berühren. Die Intimitäten haben Sie sich für Ihren Sohn aufgehoben, nicht wahr, Mrs. W.? Das gemeinsame Planschen in der Badewanne zu einer Zeit, als Michael das längst nicht mehr guttat. Nicht daß sie Mrs. W. verdächtigte, ihren Sohn belästigt zu haben. Jane war sicher, daß ihre Schwiegermutter über eine solche Vorstellung ehrlich entsetzt gewesen wäre. Aber selbst wenn diese gemeinsamen Badevergnügen völlig harmlos gewesen waren, hatte Michaels Mutter doch versäumt, Grenzen zu setzen, und es damit ihrem Sohn schwer, wenn nicht unmöglich gemacht, einzusehen, daß es Grenzen gab.
    Whittaker senior, promovierter Naturwissenschaftler, gab sich zwar durchaus umgänglich, war in Wirklichkeit aber ein kühler und unnahbarer Mann. Er war ein meist ferner Vater gewesen, auch wenn er seinem einzigen Enkelkind gegenüber heute weit zugänglicher war. Jane nannte ihn Bert, aber sie hatte stets den Eindruck gehabt, daß eine förmliche Anrede ihm lieber
gewesen wäre. Seine Frau war für sie immer Mrs. Whittaker geblieben. Nie wäre es ihr eingefallen, sie Mutter zu nennen, wie Doris Whittaker sich das gewünscht hatte. Sie hatte einen Kompromiß geschlossen und nannte sie Doris, aber seitdem war die Beziehung zwischen den beiden Frauen so steif wie Doris Whittakers Frisur.
    Bestenfalls würde man ihr einen lauwarmen Empfang bereiten. Schlimmstenfalls einen feindseligen.
    Jane atmete erleichtert auf, als sie den Highway erreichte. Sie hatte es bis hierher geschafft, da würde sie den Rest der Fahrt wohl auch noch schaffen. Die Straße war nicht voll, und sie kam gut vorwärts. Sie nahm sich vor, nicht schneller zu fahren als erlaubt; lieber mit Verspätung ankommen als gar nicht. Sie mußte eben ausnahmsweise einmal Geduld haben.
    Und wie war das eigentlich mit meinen eigenen Eltern? fragte sie sich.
    Sie erinnerte sich an ihren Vater: Ein nicht sehr großer, recht fülliger Mann mit weicher, sanfter Stimme, die dennoch Autorität besaß. Er war der Leiter einer Highschool in Hartford gewesen, ein Mann mit Zivilcourage, der sich zusammen mit seinen Lehrern in die Streikpostenkette gestellt hatte, als diese gegen die Schulbehörde in Streik getreten waren. Als er mit vierundvierzig Jahren plötzlich an einem Herzinfarkt gestorben war, hatte Jane ihren eigenen Schmerz verdrängt, um ihre Mutter trösten zu können, die selbst in den besten Zeiten zur Hysterie neigte.
    Ihre Mutter war eine witzige und temperamentvolle Frau gewesen, aber auch launisch und anspruchsvoll. Erst als Jane von zu Hause weggegangen war, hatte sie ihre Mutter mit all ihren Schwächen und Fehlern akzeptieren können. Zur Zeit ihres Todes hatte eine tiefere Verbindung zwischen ihnen bestanden als je zuvor. Jane hatte nach dem tödlichen Unfall um ihre Mutter und um ihren Vater geweint und sich mehrere Tage lang ganz in
ihren Schmerz hineinfallen lassen, bis er sich langsam in stille Trauer gewandelt hatte.
    Wie hatte Michael es wagen können, dieses Unglück für seine gemeinen Ziele auszunutzen!
    Jane ließ sich von ihrem Zorn nur so weit anstacheln, daß sie wach und aufmerksam blieb. Hatte Michael allen Ernstes erwartet, daß sein Plan, sie zur Verrückten zu stempeln, gelingen würde? Hatte er allen Ernstes erwartet, er würde alle, sie selbst eingeschlossen, davon überzeugen können, daß sie verrückt war und zu ihrem eigenen Schutz in eine Anstalt gebracht werden mußte? Oder hatte er gehofft, sie würde ihm die Mühe ersparen und sich freundlicherweise selbst das Leben nehmen? Hatte er sie jemals wirklich geliebt?
    So merkwürdig es war, sie glaubte es; sie glaubte sogar, daß er sie immer noch liebte. Seine Liebesbezeigungen waren echt, nur war eben sein Selbsterhaltungstrieb stärker als seine Liebe. Er konnte nicht zulassen, daß sie ihre Beschuldigungen an die Öffentlichkeit

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