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Lauf, Jane, Lauf!

Titel: Lauf, Jane, Lauf! Kostenlos Bücher Online Lesen
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überraschen.«
    Jane stand so leise wie möglich aus der Schaukel auf und hielt sie dabei mit beiden Händen fest, um kein Geräusch zu machen. Auf Zehenspitzen schlich sie zur Küche, stieß die Tür zwischen den beiden Räumen einen Spalt auf und lauschte.
    »Sie wird Sie sicher anrufen, sobald sie zurück ist«, sagte Paula, die mit dem Rücken zu Jane stand und ihre Anwesenheit nicht bemerkte. »Ja, ist gut. Auf Wiederhören.« Sie legte auf und drehte sich um.
    Wenn Janes unerwartete Anwesenheit sie erschreckte, so faßte sie sich schnell. »Ich dachte, Sie schliefen noch«, sagte sie.
    »Wer war das?« fragte Jane und zeigte auf das Telefon.
    »Ich habe vergessen zu fragen«, sagte Paula betreten.

    »Wieso haben Sie gesagt, ich wäre bei meinem Bruder?«
    Jetzt sah Paula entschieden verlegen und unsicher aus. »Ihr Mann meinte, es wäre besser, wenn Sie nicht durch Anrufe gestört werden. Wenigstens vorläufig. Bis Sie wieder bei Kräften sind.«,
    »Ich bin bei Kräften«, entgegnete Jane gereizt, obwohl sie sich ausgesprochen schwach fühlte. »Mir fehlt’s nicht an der Kraft, sondern am Gedächtnis.«
    »Aber es hätte doch sowieso keinen Sinn, mit jemandem zu sprechen, an den Sie sich nicht erinnern können.«
    Jane wurde ärgerlich. »Es könnte ja sein, daß so ein Gespräch Erinnerungen weckt.«
    »Oder auch nicht. Und das würde Sie doch noch unsicherer machen. - Möchten Sie jetzt nicht etwas zu Mittag essen?«
    »Wieso? Ich habe doch eben erst gefrühstückt.«
    »Das ist Stunden her. Kommen Sie, Sie müssen...««
    »... wieder zu Kräften kommen, ich weiß.«
    Jane setzte sich an den Küchentisch und wartete, während Paula ihr Mittagessen zubereitete.
     
    Sie entdeckte die Fotoalben auf dem untersten Bord des Bücherregals im Wohnzimmer.
    Einen nach dem anderen blätterte sie die sechs in Leder gebundenen Bände durch. In einer Folge manchmal alberner, größtenteils durchschnittlicher, gelegentlich bemerkenswerter Fotografien lag ihr Leben vor ihr. Ein Jahr trug sie das Haar lang, im nächsten trug sie es kurz, einmal lockig, einmal glatt, ein andermal hochgesteckt oder lose herabfallend. Sie trug ausgestellte Hosen und hautenge Jeans, Schuhe mit Plateausohlen und Stiefel bis über die Knie, Lederjacken und voluminöse Pullover. Die einzige Konstante war ihr Lächeln. Immer lächelte sie.
    Viele Aufnahmen zeigten sie und Michael zusammen. Als unverheiratetes junges Liebespaar; bei der Hochzeit; auf Urlaubsreisen.
Gemeinsam mit anderen oder zu zweit allein. Immer Arm in Arm, unverkennbar die Liebe, die sich in ihren Blicken spiegelte.
    Eine Fotografie zeigte Michael mit einem älteren Paar, seine Eltern vermutlich. Zwei gutaussehende Menschen, beide groß und stattlich, der Vater schon grau, mit schütterem Haar, die Mutter strahlend blond, die Frisur wie gemeißelt. Auf einer anderen Seite waren Aufnahmen von Jane in herzlicher Umarmung mit einer Frau, die nur ihre Mutter sein konnte. Es gab Jane einen Stich, als sie sie sah. »Verzeih mir, Mutter«, flüsterte sie und zeichnete die Konturen der Frau mit einem Finger nach. »Ich möchte mich so gern an dich erinnern können.«
    Sie klappte das Album zu. Die Tränen schossen ihr in die Augen, aber sie drängte sie zurück. »Verdammt noch mal, ich werde mich erinnern.« Sie schlug den Band wieder auf. »Natürlich erinnere ich mich an dich, Mutter«, sagte sie zu der Frau, die sie aus dem Foto anlächelte. »Und ich erinnere mich natürlich auch an meinen Bruder Tommy. Wie geht es dir, Tommy, hm?«
    Ein junger Mann mit hellem Haar und einer kleinen Lücke zwischen den Schneidezähnen erwiderte ihr Lächeln. Rechts von ihm stand eine junge Frau, in der Jane sich selbst erkannte, links von ihm die ältere Frau, die ihre Mutter war. Besitzergreifend hielt er beide um die Taille. Aber die nächste Aufnahme zeigte einen anderen jungen Mann, dunkelhaarig, mit schmalem Mund, in ähnlicher Haltung, gleichermaßen besitzergreifend die Arme um die beiden Frauen gelegt. Vielleicht war das ja Tommy.
    Sie schlug das nächste Album auf und sah sich einer hochschwangeren Frau in gestreiftem Hemd und Blue Jeans gegenüber. Das Gesicht unter dem zurückgekämmten Haar wirkte beinahe aufgedunsen, die Beine, die unter den aufgekrempelten Jeans hervorsahen, waren stark geschwollen.
    Instinktiv strich sich Jane über den Bauch. Da stand sie, Inbegriff
der werdenden Mutter, und jetzt saß sie hier und konnte sich nicht an einen einzigen winzigen Moment jener Zeit in

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