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Lauf, Jane, Lauf!

Titel: Lauf, Jane, Lauf! Kostenlos Bücher Online Lesen
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Gefangene in meinem eigenen Haus, hätte sie gern gesagt, tat es aber nicht, da sie wußte, wie melodramatisch das klingen würde, und wie unfair es gewesen wäre. Michael hätte nicht fürsorglicher, nicht liebevoller sein können. Und Paula schmiß den ganzen Haushalt, spülte, putzte, kochte und bemühte sich, ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Nur den einen wahren Wunsch, einfach in Frieden gelassen zu werden, den erfüllte sie ihr nicht.
    Beinahe eine Woche war vergangen, seit Michael sie aus dem Krankenhaus nach Hause geholt hatte. Sie hatte in dieser Zeit kaum etwas anderes getan als essen und schlafen. Wenn sie nicht schlief, mußte sie sich anstrengen, wach zu bleiben. Und wenn sie wach war, mußte sie gegen die Depression kämpfen. Je länger sie wach blieb, desto tiefer wurde die Depression. Das einzige Mittel, ihr zu entfliehen, war zu schlafen. Sie hatte es sogar geschafft, einen Termin zu verschlafen, den Michael bei einem führenden Bostoner Psychiater für sie vereinbart hatte. Aus kollegialem Entgegenkommen hatte der vielbeschäftigte Arzt ihr eine Stunde eingeräumt, doch als Michael nach Hause gekommen war, um sie abzuholen - nachdem er selbst seinen ganzen Terminkalender über den Haufen geworfen hatte -, hatte er sie nicht wach bekommen können. Es mußte ein neuer Termin vereinbart werden, diesmal jedoch mit einer Wartezeit von sechs Wochen, da der Psychiater nicht bereit war, ihr ein zweites Mal eine Extrawurst zu braten. Aber in sechs Wochen, dachte Jane flehentlich, würde sie seine Hilfe doch gewiß nicht mehr brauchen. Da mußte dieser Alptraum vorbei sein.
    Sie hatte keine Träume mehr. Keine Erinnerungen meldeten sich mehr. Sie existierte, wenn sie überhaupt existierte, und daran begann sie langsam zu zweifeln, in einem Vakuum.
    »Ich weiß nicht mehr, wie du deinen Kaffee trinkst«, sagte Carole.

    »Schwarz. Und vielen Dank, daß du’s vergessen hast.«
    Carole lachte. »Warte nur, bis du in meinem Alter bist. Da wirst du merken, daß dein Zustand nichts Besonderes ist. Ein bißchen extrem vielleicht, aber nichts Besonderes. Es gibt Tage, da kann ich mich an überhaupt nichts erinnern. Ich muß mir alles aufschreiben. Überall liegen Zettel herum.« Sie ging zu einem kleinen Schreibtisch an der gegenüberliegenden Wand und zeigte Jane ein halbes Dutzend Notizblätter. »Ich habe für alles eine Liste. Was ich mir nicht aufschreibe, vergesse ich prompt.«
    Sie kehrte zum Tisch zurück und goß Jane eine Tasse Kaffee ein. »Ich mache jeden Morgen eine Riesenkanne«, bemerkte sie mit einer Geste zur Kaffeemaschine, »und laß sie einfach den ganzen Tag stehen. Es ist koffeinfreier Kaffee, da lieg ich nachts nicht wach. Es heißt zwar, daß man davon Krebs bekommt, aber wovon bekommt man den nicht? Also - Prost.«
    Sie hob ihre Tasse und stieß mit Jane an, als tränken sie Champagner. Dann zog sie sich einen Stuhl heran und setzte sich Jane gegenüber. Eine Weile schwiegen sie beide, und Jane nutzte die Gelegenheit, sich umzusehen. Die Küche hatte etwa die gleiche Größe wie ihre eigene, aber sie hätte dringend einen frischen Anstrich gebraucht, und die Brandflecken auf Tisch und Arbeitsplatte wirkten auch nicht gerade gepflegt. Die geflochtenen Sitzflächen der Küchenstühle waren ausgefranst, dem völligen Zerfall nahe, und der Linoleumboden war voll vergessener Krümel. Das Radio an der Wand neben dem Telefon dudelte.
    »Magst du Country Music?« fragte Jane zerstreut.
    »Leidenschaftlich«, antwortete Carole. »Allein die Texte! >Ich hol mir einen Penner als Gartenzwerg ins Haus<. Das muß man doch mögen!«
    Jane lachte und war froh und erstaunt, es zu hören. Sie hatte seit Tagen nicht mehr gelacht. Michael war die meiste Zeit nicht da, und Paula sprühte nicht gerade vor Witz. Sie sah durch das Fenster in den Garten hinaus, wo der große Hund der Familie einem
Eichhörnchen hinterherjagte, und es hätte sie nicht gewundert, irgendwo im Gebüsch Paula lauern zu sehen.
    Es war fast zwei Uhr. Im allgemeinen hielt sie um diese Zeit ihren Mittagsschlaf. Aber diesmal hatte sie so getan, als schliefe sie schon, als Paula hereingekommen war, um ihr ihre Tabletten zu geben, und hatte sich dann wie ein Kind, das etwas Verbotenes tut, aus dem Haus geschlichen. Wie lange würde es dauern, ehe Paula merkte, daß sie weg war?
    Das ganze Haus dröhnte plötzlich unter polternden Sprüngen auf der Treppe. »Ich geh jetzt!« rief jemand aus dem Flur.
    Carole sprang auf. »Einen

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