Lauf, Jane, Lauf!
verrückt«, sagte sie laut. »Selbst als plötzlich mein Gedächtnis weg war, ist mir der Appetit nicht vergangen.«
Sie musterte die zwei kleinen, runden, leicht gewölbten weiϐen Tabletten mit den gezackten Rändern mehrere Sekunden lang, ehe sie die Tür zu ihrem Schrank aufzog und sie ganz vorn in einen schwarzen Schuh schob, der dort auf dem Boden stand.
Ob andere Leute wohl auch so interessante Schuhe haben wie ich, ging es ihr flüchtig durch den Kopf. Sie richtete sich mühsam auf und schleppte sich zum Nachttisch, wo sie hastig das Glas Wasser leerte, ehe Paula zurückkehrte.
»Das war meine Mutter«, sagte Paula unaufgefordert, als sie wieder ins Zimmer kam.
»Alles in Ordnung?«
»Christine hat es sich in den Kopf gesetzt, ein bestimmtes Kleid anzuziehen, und meine Mutter konnte es nicht finden. Sie wollte nur fragen, ob ich weiß, wo es ist.«
»Und?« Jane wollte das Gespräch nicht versickern lassen. Sie war dankbar für alles, was ihr das Gefühl gab, ein halbwegs normales menschliches Wesen zu sein.
Paula zuckte mit den Achseln. »Aus dem Kleid ist Christine schon lange herausgewachsen. Ich weiß nicht, wie sie plötzlich darauf kommt.« Sie runzelte die Stirn. »In letzter Zeit fällt ihr dauernd irgendeine Verrücktheit ein. Aber das gehört vielleicht dazu, wenn man fünf Jahre alt ist.«
Jane nickte und versuchte, sich an Emily zu erinnern, als diese fünf gewesen war. Sofort kam ihr das Bild eines kleinen Mädchens im rosaroten Schneeanzug, das Hand in Hand mit ihr am Rand einer kleinen, ovalen Eisbahn stand. Michael hatte gesagt, der Zwischenfall hätte sich vor etwa anderthalb Jahren ereignet, Emily wäre also tatsächlich fünf gewesen. Was für ausgefallene Ideen hatte sie wohl damals in ihrem kleinen Kopf gehabt? Und was für Ideen gingen ihr gerade jetzt vielleicht durch den Sinn?
Denkt sie an mich? fragte sich Jane. Macht sie sich Gedanken darüber, warum aus ein paar Tagen bei den Großeltern Wochen werden? Warum ich sie nicht anrufe? Glaubt sie womöglich, ich hätte sie verlassen? Wird sie sich überhaupt noch an mich erinnern, wenn ich mich endlich wieder an sie erinnere?
»Ich möchte meine Tochter anrufen«, erklärte sie unvermittelt.
»Das müssen Sie mit Ihrem Mann besprechen, wenn er heimkommt.«
»Ich brauche meinen Mann nicht um Erlaubnis zu fragen, wenn ich meine Tochter anrufen möchte.«
»Aber es wäre doch schlimm, wenn Sie in Ihrem gegenwärtigen Zustand etwas täten, was Ihre Tochter erschrecken und Sie von neuem durcheinanderbringen würde.«
»Wieso soll es sie erschrecken, mit ihrer Mutter zu sprechen?«
Paula zögerte. »Na ja, Sie sind doch nicht die Mutter, die sie in Erinnerung hat.«
Janes Entschlossenheit kam ins Wanken. Paulas letztes Argument war nicht so einfach von der Hand zu weisen. Außerdem konnte sie wohl kaum darauf bestehen, ihre Tochter anzurufen, wenn sie nicht einmal genau wußte, wo das Kind sich aufhielt und unter was für einer Telefonnummer es zu erreichen war.
»Paula«, sagte sie abrupt, als Paula sich bückte, um das Bett zu machen. Sie sah, wie Paulas Schultern sich strafften und ihre Arme herabfielen. »Wo haben Sie mein Adreßbuch hingelegt?«
Paula warf einen Blick über die Schulter, ohne ihre Haltung zu ändern. »Ich habe es gar nicht in der Hand gehabt.«
»Es lag aber in meinem Nachttisch, und jetzt ist es verschwunden.«
»Ich habe es nie gesehen«, erklärte Paula.
»Es war in der Nachttischschublade, und jetzt ist es verschwunden«, wiederholte Jane störrisch.
»Fragen Sie doch Ihren Mann danach, wenn er nach Hause kommt«, entgegnete Paula ebenso störrisch.
»Am besten mache ich mir eine Liste sämtlicher Dinge, die ich mit ihm besprechen muß.« Jane gab sich keine Mühe, den Sarkasmus in ihrer Stimme zu verbergen.
»Sie sind ja heute morgen ganz schön aufmüpfig«, bemerkte Paula. »Vielleicht ist das ein gutes Zeichen.« Sie beugte sich wieder über das Bett, um das Laken zu glätten. »Ziehen Sie sich doch
inzwischen an. Dann können wir nachher ein bißchen rausfahren.«
Es klang mehr nach Befehl als nach Vorschlag, und Jane hielt es für das Beste, nicht zu widersprechen. Paula konnte sehr hartnäckig sein. Außerdem wollte sie ja wirklich endlich mal hinaus. Hatte sie nicht Michael und Paula ständig damit in den Ohren gelegen? Wann war ihr die Lust dazu vergangen? Und wieso war sie ihr vergangen?
Sie öffnete ihren Schrank und sah hinein, als wolle sie ein Kleid für den Ausflug aussuchen.
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