Lauf, Jane, Lauf!
jammernden Tons ihrer Stimme. »Ich fühle mich so allein, wenn du nicht da bist. Ich krieg dann Angst.«
»Du brauchst keine Angst zu haben, Jane. Du bist zu Hause. Und dir kommen immer mehr Erinnerungen. Das ist doch ein gutes Zeichen.«
»Aber innerlich bin ich dauernd in Panik. Ich fühle mich völlig aus der Bahn geworfen. Und so schwach...«
»Geh doch heute mal ein bißchen an die frische Luft«, meinte Michael. Er stand vom Bett auf und blickte zu ihr hinunter. »Sag Paula, sie soll einen Spaziergang mit dir machen.«
»Ich glaube nicht, daß ich weit kommen würde.«
»Dann nehmt den Wagen. Die frische Luft wird dir bestimmt guttun.«
»Ich versteh einfach nicht, wieso ich die ganze Zeit so schlapp bin.«
»Ich muß jetzt wirklich gehen, Liebes. In knapp einer Stunde kommt mein erster Patient.«
»Vielleicht sollte ich noch einmal zu Dr. Meloff gehen. Vielleicht ist mit meinem Hirn wirklich was nicht in Ordnung.«
»Besprechen wir das doch heute abend, wenn ich heimkomme, ja?« Er küßte sie noch einmal, dann ging er zur Tür. »Ich sage Paula, daß sie dir das Frühstück heraufbringen soll.«
»Ich bin nicht sehr hungrig.«
»Du mußt essen, Jane. Du möchtest doch wieder gesund werden, oder nicht?«
Oder nicht? Oder nicht? Oder nicht? Die Worte folgten ihr wie ein Echo, als sie aus dem Bett zum Badezimmer torkelte. Sie brauchte ihre ganze Konzentration, nur um einen Fuß vor den anderen zu setzen, und als sie endlich im Bad war, konnte sie sich nicht mehr erinnern, was sie dort eigentlich wollte.
»Was ist nur los mit mir?« fragte sie ihr Bild im Spiegel über dem Waschbecken. Sie sah den dünnen Speichelfaden, der ihr aus einem Mundwinkel rann, und wischte ihn zornig weg. Und war es Einbildung, oder hätten ihre Züge tatsächlich etwas Unheimliches, beinahe Maskenhaftes?
Sie versuchte sich aufzurichten und spürte, wie sich ihre Rükkenmuskeln in einem dieser Krämpfe zusammenzogen, die in letzter Zeit immer häufiger auftraten. War es möglich, daß sie einen Schlaganfall oder etwas Ähnliches erlitten hatte? Das wäre jedenfalls eine Erklärung für den Gedächtnisverlust, die Lethargie, die ihr zur ständigen Begleiterin geworden war, und die vielfältigen körperlichen Beschwerden, die sie plagten. Aber die Anzeichen eines Schlaganfalls hätten sich doch zweifellos in einem der Tests offenbart, denen man sie im Krankenhaus unterzogen hatte. Es sei denn, sie hatte den Schlaganfall erst gehabt, seit sie wieder zu Hause war. War es überhaupt möglich, einen Schlaganfall zu erleiden, ohne selbst davon zu merken?
»Irgendwas ist jedenfalls überhaupt nicht in Ordnung mit dir«, teilte sie dem unbewegt dreinblickenden Spiegelbild mit. »Du bist eindeutig schwer krank.«
Sie spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und kehrte, ohne sich abzutrocknen, ins Schlafzimmer zurück. Sie kroch wieder in ihr Bett und drückte das Kopfkissen an ihre feuchte Wange, roch Michaels Duft, obwohl sie wußte, daß er schon fort war.
Sie sah ihn neben sich im Bett liegen, seine Arme mit ihren verschlungen, seinen Körper dicht an den ihren geschmiegt, und glaubte, seinen warmen, ruhigen Atem zu spüren. Sie schliefen jetzt in einem Bett, wenn sie auch seit jenem einen Mal nicht mehr miteinander geschlafen hatten. Wie lange war das schon wieder her? Ein paar Tage? Eine Woche? Sie war immer so müde. Sie hatte nicht die Kraft. Er stellte keine Forderungen, war zufrieden, wenn er sich friedlich an sie kuschelte, allem Anschein nach froh und glücklich mit den Brosamen, die sie ihm zuwarf. Konnte wirklich schon eine ganze Woche verstrichen sein?
Jane warf sich auf den Rücken und bekam sofort wieder krampfartige Zuckungen. Sie atmete tief durch, um die Muskeln zu beruhigen und zu entspannen, und wußte doch, daß die Anfälle stärker waren als sie. Sie versuchte, sich auf andere Dinge
zu konzentrieren: auf Michaels Stimme, wenn er ihr liebevolle Worte zuflüsterte; die feuchte Wärme seiner Zunge, wenn er ihre Haut liebkoste; das kraftvolle Spiel seiner Muskeln, wenn er sie liebte; die völlige Entspannung seines Körpers, wenn er nach ihrer Umarmung neben ihr niederfiel.
Sie blickte auf, doch statt seines nackten Körpers sah sie Paulas ernstes Gesicht über sich. Sie schrie leise auf, und sofort krampften sich die Muskeln in ihrem Rücken wieder zusammen. Der leise Aufschrei wurde zum Schmerzensschrei.
»Ist es wieder der Rücken?«
Paula war an die Krämpfe offensichtlich gewöhnt, dachte Jane und
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