Lauf, Jane, Lauf!
nickte, kaum fähig, den Kopf vom Kissen zu heben.
»Drehen Sie sich auf die Seite«, sagte Paula. »Kommen Sie, ich massiere Sie.«
Jane gehorchte sofort. Wie oft hatte sich dieses Ritual in der vergangenen Woche wiederholt? In ihrem Kreuz spürte sie Paulas Hände, die mit sanftem Druck kneteten und strichen.
»Hier?« fragte Paula, deren Finger unsichtbare Kreise auf dem weißen Baumwollnachthemd zogen.
»Ein bißchen höher. Ja, da. Danke.«
»Versuchen Sie, in die Stelle hineinzuatmen«, hörte sie Paula sagen und fragte sich, was, zum Teufel, sie damit meinte. Wie sollte sie ihren Atem an eine bestimmte Stelle dirigieren?
»Konzentrieren Sie sich«, sagte Paula.
Jane versuchte es, aber sie schaffte es nicht. Wie sollte sie sich auf ihren Atem konzentrieren, wenn sie Mühe hatte, sich überhaupt zu konzentrieren?
Was ging mit ihr vor? Wann hatte sie die Grenze von der Hysterie zur Invalidität überschritten?
»Geht’s jetzt besser?« fragte Paula und zog die Hände weg.
»Ja. Vielen Dank.«
»Sie sollten versuchen aufzustehen und sich ein bißchen zu bewegen. Gymnastik wäre gut.«
Bei der Vorstellung gymnastischer Übungen wurde Jane beinahe übel. »Nein, ich glaube nicht, daß das so besonders gut wäre.«
»Dr. Whittaker meint, wir sollten ein bißchen an die frische Luft gehen. Er hat gesagt, ich soll einen Spaziergang mit Ihnen machen.«
»Fahren wir lieber mit dem Auto«, entgegnete Jane, die sich an den zweiten, weit sympathischeren Vorschlags erinnerte.
»Er sagte, Sie wollen kein Frühstück.«
»Ich glaube, ich könnte keinen Bissen hinunterbringen.« Mit hoffnungsvollem Blick sah sie Paula an. »Glauben Sie, daß ich vielleicht die Grippe habe oder so was?«
Vielleicht, dachte sie, waren alle so auf ihre Amnesie fixiert, daß sie andere naheliegende Gründe für ihren gegenwärtigen Zustand völlig übersahen. Es konnte doch sein, daß das eine mit dem anderen überhaupt nichts zu tun hatte. Es konnte doch sein, daß sie schlicht und einfach krank war.
Paula legte Jane sofort die Hand auf die Stirn. »Sie sind wirklich ein bißchen heiß«, meinte sie, »aber das ist kein Wunder, wenn man den ganzen Tag im Bett liegt.« In den Worten schwang ein vorwurfsvoller Unterton mit. Jane kam sich vor wie ein kleines Mädchen, das von der Kinderfrau zurechtgewiesen wurde.
»Ich werde versuchen aufzustehen.«
»Aber nehmen Sie lieber erst Ihre Tabletten.« Und schon hielt Paula ihr in der einen Hand die zwei kleinen weißen Tabletten hin, in der anderen ein Glas Wasser.
Würde mich nicht wundern, wenn sie nebenbei als Zauberkünstlerin auftritt, dachte Jane, die langsam die beiden Tabletten auf ihre eigene Hand legte und sie so intensiv betrachtete, als erwarte sie, daß sie gleich anfangen würden zu sprechen.
»Nehmen Sie sie«, sagte Paula hastig, als im anderen Zimmer das Telefon klingelte, das Michael irgendwann in der vergangenen
Woche hinausgestellt hatte. »Ich komme gleich wieder.« Sie stellte das Glas Wasser auf den Nachttisch und eilte aus dem Zimmer.
»Wenn es für mich ist, dann möchte ich drangehen, ganz gleich, wer es ist!« rief Jane ihr nach, erhielt jedoch keine Antwort. »Vergiß es«, sagte sie zu ihrem Bild in den Spiegel gegenüber dem Bett. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und versuchte, die Muskeln ihres Mundes zu einem Lächeln zu zwingen. Aber sie gehorchten ihr nicht. »Du wirst lächeln!« sagte sie im Befehlston und legte die Finger an die Mundwinkel, um sie hochzuziehen.
Die weißen Tabletten fielen ihr aus der Hand auf den blaßgrünen Teppich unter ihren Füßen. »Ach, du lieber Gott, euch hatte ich ja ganz vergessen!« Jane ließ sich auf alle viere hinunter, um die Tabletten aufzuheben. Als sie den Kopf wieder hob, sah sie sich in der Spiegelwand. Frau als Hund, dachte sie verwundert und fragte sich, wie es so weit mit ihr hatte kommen können.
Konzentrieren Sie sich, hörte sie Paula sagen. Konzentrier dich, wiederholte sie für sich. Als du in den Straßen von Boston herumirrtest, fühltest du dich wohl; du fühltest dich gesund, als du im Lennox Hotel warst. Auf dem Polizeirevier und im Krankenhaus warst du körperlich völlig in Ordnung. Es ging dir auch noch gut, als Michael dich nach Hause brachte. Erst nachdem du angefangen hast, diese blöden kleinen weißen Tabletten zu nehmen, die angeblich so gut verträglich und so heilsam sind, wurdest du schlapp und lethargisch, fingst an zu sabbern und verlorst den Appetit.
»Das ist doch
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