Lauf, Jane, Lauf!
Teufel mit meinem Mann, hätte sie am liebsten entgegnet
und biß sich fest auf die Unterlippe, um die Worte zurückzuhalten. Sie spürte, wie ihr der Speichel aus dem Mund zum Kinn rann, und hob die Hand, um ihn wegzuwischen.
»Im Handschuhfach liegen Papiertücher.«
»Ich brauche keine Papiertücher.« Jane merkte das Zittern in ihrer Stimme und merkte, daß sie den Tränen nahe war. Ich falle wirklich von einem Extrem ins andere, dachte sie. Erst grins ich mir eins und im nächsten Moment fange ich an zu heulen. Ich benehme mich wie ein Kind, weil ich wie eines behandelt werde.
Sie starrte zum Fenster hinaus. Eine Gruppe von vielleicht zwölf Kindern marschierte auf dem Bürgersteig vorbei. Alle hatten die kleinen Fäuste fest um ein Seil gelegt, an dessen vorderem und hinterem Ende mehrere junge Frauen gingen. Die Kinder waren sechs oder sieben Jahre alt, die Mädchen waren in der Überzahl. Wäre dieser Sommer normal verlaufen, wäre dann auch Emily in dieser lachenden kleinen Seilschaft mitmarschiert?
Jane verspürte eine tiefe Sehnsucht. Ich kann mich vielleicht nicht an dich erinnern, mein Liebes, dachte sie und wandte sich von den Kindern ab, aber ich weiß, daß ich dich brauche, und ich glaube, auch du brauchst mich. Sie beschloß, Michael zu bitten, Emily unbedingt nach Hause zu holen.
An der Beacon Street bog Paula links ab. Schon wieder eine Beacon Street, dachte Jane. Boston scheint voll davon zu sein.
»Halt!« schrie sie plötzlich, und Paula trat sofort hart auf die Bremse. Der Motor stotterte vorwurfsvoll und war kurz vor dem Absaufen.
»Was zum Teufel...?«
»Das ist Emilys Schule.« Jane sprang aus dem Wagen und rannte auf das schlichte einstöckige Schulhaus zu.
»Kommen Sie wieder in den Wagen, Jane.«
Beim Klang von Paulas Stimme blieb Jane abrupt stehen, doch sie kehrte nicht zum Wagen zurück. Selbst wenn sie es gewollt
hätte, hätte sie sich nicht von der Stelle rühren können. Ihre Füße schienen wie festgenagelt. Sie zitterte am ganzen Körper. Irgend etwas wälzte sich, einer gewaltigen Flutwelle gleich, auf sie zu, gewann an Kraft und Geschwindigkeit, und sie konnte weder zurückweichen noch zur Seite springen. Sie stand gelähmt, mehr vor Staunen als vor Furcht, und ließ sich von der Erinnerung überfluten.
14
»Okay, habt ihr alle eure Fahrkarten?«
Jane lauschte der schrillen Stimme der Lehrerin, die sich in ihr Bewußtsein drängte. Sie sah sich selbst im oberen Stockwerk der South Station, mitten in einer großen Schar Kinder, ihren Lehrern und einer Handvoll Eltern, alle müde nach einem aufregenden Nachmittag im Kindermuseum in Boston. Rasch zählte sie die Köpfe der acht Kinder, die, Emily eingeschlossen, ihrer Obhut anvertraut waren.
»Denkt daran, daß der Zug für alle da ist«, fuhr die Lehrerin fort. »Also kein Drängeln und Schieben. Und möglichst leise bitte. Seid ihr alle soweit?«
Plötzlich erschien ein Mann - klein und vierschrötig, den Kopf nach vorn geschoben, den Blick zu Boden gerichtet - und stürmte wie ein gereizter Stier mitten durch die Kinderschar. Mit beiden Armen stieß er die Kinder, die ihm im Weg standen, zur Seite. Ein kleines Mädchen fiel taumelnd gegen ein anderes Kind, und beide begannen zu weinen; ein kleiner Junge erhielt einen Schlag mitten ins Gesicht. Der Mann jedoch, wütend über die Invasion des Bahnsteigs, den er offenbar als sein Privatrevier betrachtete, drängte sich rücksichtslos und unversöhnlich weiter zwischen den jetzt verängstigten Kindern durch, während Lehrer und Eltern
in hilflosem Zorn zusahen. Er hatte schon fast den Ausgang erreicht, als Janes Stimme ihn einholte.
»He, Sie!« schrie sie und rannte ihm nach, wobei sie ihre große Handtasche wie einen Basballschläger durch die Luft schwang. Sie zielte auf seinen Hinterkopf und hörte den dumpfen Aufprall der Tasche auf seinem Schädel.
Es war schlagartig mucksmäuschenstill geworden. Jane musterte mit einem raschen Blick die stummen Zuschauer. Lehrer und Eltern standen mit offenen Mündern und aufgerissenen Augen da; die Kinder starrten sie beinahe mit Hochachtung an. Aber vielleicht war es auch einfach Angst, dachte Jane, die es selbst mit der Angst zu tun bekam, als der Mann wütend herumfuhr.
Oh, Mist, dachte sie, jetzt macht er mich fertig.
Der Mann jedoch, etwas fünfzig, muskulös, das Gesicht von Wut entstellt, schrie nur: »Was ist denn in Sie gefahren? Sind Sie verrückt geworden?« Dann rannte er weiter.
Bin ich vielleicht wirklich
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