Lauf, Jane, Lauf!
Schoß ihrer Mutter.
»Ich meine, als der kleine Junge das Flugzeug nach Michael warf. Die Verletzung muß doch stark geblutet haben. Sie mußte ja sogar genäht werden.«
Rosie Fitzgibbons war völlig entgeistert. »Ich verstehe nicht...«
Die Tür von Michaels Sprechzimmer öffnete sich, und Stuart und sein Vater (Großvater?) traten heraus. Beinahe im selben Moment kam Paula ins Wartezimmer, und Michael ging zu Jane.
»Ich komme nach Hause, sobald ich kann«, sagte er leise und zwinkerte ihr zu. »Bis zum Mittagessen.«
Jane lächelte und hob den Blick zu seiner Stirn. Im Geist sah sie die frische Narbe, die unter seinem Haar verborgen war, und war überzeugt, daß sie nicht nur das Gedächtnis verloren hatte, sondern jetzt auch noch den Verstand.
15
Es war natürlich möglich, daß der Zwischenfall sich gar nicht im Vorzimmer ereignet hatte, sagte sich Jane, während sie geistesabwesend in die rasch vorüberfliegende Landschaft hinaussah. Paula fuhr sehr schnell, als wolle sie ihrem Wagen möglichst wenig Zeit lassen zu streiken. Jane hielt es kaum noch aus in dem alten Auto. Sein Spucken und Stottern machten sie nervös. Am liebsten wäre sie ausgestiegen und den Rest des Wegs zu Fuß gegangen, aber sie wußte, daß Paula das niemals erlauben würde, obwohl sie nur noch wenige Kilometer von zu Hause entfernt sein konnten. Vielleicht würde sich Paula, wenn der Wagen erst wieder sicher in der Auffahrt stand, zu einem Spaziergang durch die Nachbarschaft überreden lassen. Sie fühlte sich kräftiger. Es war denkbar, daß ihre Beine sie einmal ums Karree tragen würden.
Je länger Jane darüber nachdachte, desto überzeugter wurde sie, daß die frische Luft ihr guttun und die noch verbliebenen Spinnweben fortblasen würde, so daß ihre Gedanken ebenso wie ihre Glieder endlich den Raum erhielten, den sie brauchten, um sich zu strecken und zu dehnen. Im Augenblick tobte eine Unzahl zusammenhangloser Gedanken und Ideen in ihrem Hirn. Sie kämpften miteinander um Bewegungsraum, drängten hierhin und dorthin, aber sie bildeten keine Verbindungen. Sie waren
wie eine Horde Kinder, die sich auf einem Spielplatz bekriegten. Sie mußte die Türen öffnen, den Gedanken freien Lauf lassen, einigen dieser verrückten Theorien den Raum schaffen, den sie brauchten, um Form anzunehmen und sich dann wieder zu verflüchtigen.
Aber was waren das überhaupt für Theorien? Daß Michael gelogen hatte, als er Paula erzählte, ein Spielzeugflugzeug habe ihn am Kopf getroffen? Daß Paula die ganze Geschichte erfunden hatte, um Michael zu schützen? Daß hier eine raffinierte Verschwörung im Gange war? Aber vielleicht war Michael wirklich von einem Spielzeugflugzeug am Kopf getroffen worden, genau wie er gesagt hatte, nur daß die Sache nicht in seiner Praxis passiert war, jedenfalls nicht im Vorzimmer - hatte er das denn je behauptet? -, sondern irgendwo anders.
Wo also? Im Vorzimmer stand die Spielkiste. Natürlich konnte eines der Kinder das kleine Flugzeug ins Sprechzimmer mitgenommen und dort geworfen haben. Aber auch dort waren keine Blutflecken auf dem Teppich gewesen. Sie hätte sie bemerkt. Alles andere hatte sie ja auch bemerkt: die Möbel, die Bücher, die Fotografien. Gewiß, sie hatte zu dem Zeitpunkt nicht an seine Kopfverletzung gedacht, aber etwas so leicht Erkennbares wie Blutflecken wäre ihr doch aufgefallen. Sie war auf dem Gebiet schließlich Expertin.
Oder der Zwischenfall hatte überhaupt nicht stattgefunden.
Rosie Fitzgibbons schien jedenfalls nichts davon zu wissen. Sie hatte entgeistert die Augen aufgerissen, als Jane auf die Sache zu sprechen gekommen war, und hatte nur >Ich verstehe nicht< gesagt. Es lag auf der Hand, daß sie von der Geschichte nichts wußte. Aber vielleicht war sie zum fraglichen Zeitpunkt gerade nicht an ihrem Schreibtisch gewesen. Vielleicht hatte sie an dem Tag frei gehabt. Diese Möglichkeit bestand immer. Es gab überhaupt unendlich viele Möglichkeiten.
Und das schlimmste war die Möglichkeit, daß sie tatsächlich
langsam durchdrehte. Daß sie alles völlig falsch gedeutet hatte: die Narbe, Paulas Erklärung, Rosies Reaktion. Es war alles unsinnig. Ihr ganzes Leben war unsinnig. War es je anders gewesen?
Weshalb sollte Michael lügen? Wozu? Ihre Gedanken jagten sich auf der Suche nach Antworten und Lösungen. Es gab nur eine mögliche Erklärung: Wenn Michael gelogen hatte, dann hatte er gelogen, um sie zu schützen. Er wußte, was geschehen war, was sie getan hatte, und
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