Lauf, Jane, Lauf!
es war etwas so Schreckliches, so Unverzeihliches, daß sie davor geschützt werden mußte. War er dabei gewesen? Hatte er versucht, sie zu hindern? Hatte sie selbst ihm die Verletzung an der Stirn beigebracht? War das Blut auf ihrem Kleid Michaels Blut?
Aufstöhnend warf sie sich zurück.
»Was ist? Ist Ihnen nicht gut?« Beim Klang von Paulas Stimme zerstoben die erschreckenden Bilder.
»Wie bitte? Doch, doch. Alles in Ordnung.« Jane setzte sich wieder gerade und sah zum Fenster hinaus, als der Wagen in die Forest Street einbog. »Ich hab mich nur gestreckt, um mir ein bißchen Bewegung zu verschaffen.« Sie log ja nicht, sagte sie sich. Sie fabulierte nur. »Vielleicht könnten wir einen Spaziergang machen.«
»Ich finde, Sie haben für heute genug unternommen.«
»Nur einen kleinen.«
Paula steuerte den Wagen in die Auffahrt. »Dazu haben wir gar keine Zeit mehr. Ich muß ein anständiges Mittagessen machen, wenn Ihr Mann nach Hause kommt.«
»Sie brauchen ja nicht mitzukommen. Ich schaffe es bestimmt auch allein.«
»Heute morgen haben Sie kaum aus dem Bett gefunden.«
»Ja, aber jetzt fühle ich mich viel kräftiger, und außerdem will ich ja nur eine Runde um den Block drehen.«
»Damit Sie dann am Ende nicht da sind, wenn Ihr Mann nach
Hause kommt, obwohl er extra Ihretwegen die lange Fahrt macht?«
»Ach, es wären doch höchstens ein paar Minuten«, begann Jane und brach ab, als sie einsah, daß es keinen Sinn hatte. Sie öffnete die Wagentür und stieg aus.
Auf dem Weg zur Haustür wurde sie von einer kräftigen Männerstimme aufgehalten. »Jane!«
Sie drehte sich um. Michael! dachte sie und wollte zu ihm laufen, um ihn anzuflehen, ihr die Wahrheit zu sagen. Dieses dauernde Herumraten und Spekulieren machte sie wahnsinnig. Sie würde ihm alles erzählen, von dem Geld, von dem blutverschmierten Kleid, wie sie das gleich zu Anfang hätte tun sollen, und ihn bitten, auch ihr gegenüber offen zu sein. Ich brauche keinen Schutz, würde sie sagen. Ich muß wissen, was wirklich geschehen ist.
Doch statt Michael sah sie einen sympathisch wirkenden Fremden mit dunkelbraunem Haar und einem ungezwungenen Lächeln, der ihr aus Caroles Vorgarten zuwinkte. Hätte sie ihn kennen müssen?
Ehe Paula sie zurückhalten konnte, rannte Jane los und lief über die Straße. Paula konnte ihr nur hilflos nachsehen.
»Hallo!« rief sie, als der lächelnde Fremde näher kam, um sie zu begrüßen.
»Es ist schön, dich zu sehen«, sagte er. Aber dann gefror sein Lächeln, und seine Stimme wurde besorgt. »Bist du krank? Du siehst nicht sehr gut aus.«
Jane war ihm dankbar für die Untertreibung. »Ich war krank. Aber langsam geht es mir besser.«
»Hoffentlich war es nichts Ernstes.«
»Ach, nur so ein mysteriöser Virus«, erklärte Jane, die sich erinnerte, was Michael seiner Sekretärin erzählt hatte. »Ich bin schon auf dem Weg der Besserung.« Mit wem sprach sie da? Wer war dieser Mann, und wieso kümmerte ihn ihr Befinden?
»Da bist du wohl in letzter Zeit nicht viel gelaufen, hm?«
»Gelaufen? Nein, danach war mir weiß Gott nicht zumute.« Höchstens zum Davonlaufen, dachte sie, sagte es aber nicht. »Ich bin heute zum ersten Mal seit über einer Woche wieder auf.«
»Dann habe ich ja doppeltes Glück gehabt, daß ich gerade heute hergekommen bin. Ehrlich gesagt, ich bin in letzter Zeit auch nicht viel gelaufen«, bekannte er, offensichtlich bestrebt, das Gespräch zu verlängern. »Aber ich fange jetzt wieder an.« Er blickte auf seine Füße. »So ein Neuanfang hat wahrscheinlich immer seine Schwierigkeiten.«
Endlich eine Aussage, mit der sie sich identifizieren konnte!
Der Mann konnte nur ihr früherer Jogging-Partner sein, Caroles abtrünniger Ehemann Daniel. Sie betrachtete ihn mit neuen Augen. Er war nicht irgendein charmanter Fremder, der sich nach ihrem Befinden erkundigte, sondern der Mann, der Frau und Kinder verlassen hatte, ganz zu schweigen von Hund und Schwiegervater, um ein neues Leben in Freiheit zu beginnen. Ein Mann mit dem Mut, das durchzusetzen, was sie nicht geschafft hatte - sich ein ganz neues Leben aufzubauen.
»Und wie geht’s dir so, Daniel?«
»Na hör mal, was soll die förmliche Anrede?« Er schien ehrlich verletzt.
»Was?«
»Na ja, ich weiß, daß Carole Daniel vorzieht, und du hast wahrscheinlich in letzter Zeit viel mit Carole geredet, aber das heißt doch noch lange nicht, daß du mich jetzt auch Daniel nennen mußt. Sag doch Danny wie immer.«
Jane
Weitere Kostenlose Bücher