Lauf, wenn du kannst
Satzfetzen aus einem unglücklichen Traum. Für einen Außenstehenden wäre der Raum übertrieben hell gewesen, aber Catherine kannte die Wahrheit. Die beiden eingeschalteten Lampen besaßen längst nicht genug Strahlkraft für sie und ihren lichthungrigen Sohn. Und angesichts der jüngsten Ereignisse würde vermutlich der gesamte Glühbirnenvorrat der Welt nicht reichen, um sie vor der Dunkelheit zu retten.
Catherine wusste nicht, was sie tun sollte.
Und ausgerechnet in diesem Moment erschien natürlich ihr Schwiegervater auf der Bildfläche.
In einem Tausend-Dollar-Kaschmirmantel, auf Hochglanz polierte Schuhe an den Füßen, kam James Gagnon in die Vorhalle marschiert. Du meine Güte, sogar um drei Uhr morgens sah er aus, als sei er gerade noch im Gerichtssaal gewesen.
Der junge, uniformierte Polizist an der Tür warf einen Blick auf ihn und nahm sofort Haltung an.
Lass dich nicht unterkriegen, sagte sich Catherine. Mein Gott, sie war ja so müde.
»Catherine«, verkündete ihr Schwiegervater mit dröhnender Stimme. »Ich bin gekommen, sobald ich davon erfahren habe.«
Catherine trat hinaus in die Vorhalle, um möglichst viel Abstand zwischen ihn und Nathan zu bringen. Das Sinnbild väterlicher Anteilnahme, legte James ihr die Hände auf die Schultern und küsste sie auf die Wangen, während sein Blick bereits begierig über ihre Schulter schweifte und nach seinem Enkel suchte.
»Natürlich müsst ihr zwei sofort mitkommen. Maryanne und ich würden sonst sterben vor Sorge.«
»Danke, es geht uns gut.«
»Unsinn! Du hast doch nicht allen Ernstes vor, die Nacht in einem Haus zu verbringen, in dem sich jemand erhängt hat.«
Catherine war sich sehr wohl im Klaren darüber, dass der uniformierte Polizist, der nur fünf Meter entfernt von ihnen stand, das Gespräch unverhohlen belauschte. »Komisch, ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich dich angerufen hätte, um dir davon zu erzählen.«
»Das war nicht nötig. Einer meiner Kollegen hat mir Bescheid gegeben. Eine scheußliche Sache. Ich habe dir ja schon immer gesagt, was ich von ausländischen Kindermädchen halte. Die Armen. Sie fühlen sich ja so leicht überfordert. Sicher ist Nathan sehr traurig. Lass mich mit ihm sprechen ...«
Als James einen Schritt vorwärts machte, versperrte Catherine ihm den Weg. »Nathan schläft.«
»In diesem Durcheinander? Wie soll er denn hier auch nur ein Auge zutun?«
»Er ist sehr müde.«
»Umso mehr Grund, ihn mitzunehmen. Wir haben eine riesige Suite im LeRoux mit einem eigenen Bett für Nathan. Dann wird er endlich zur Ruhe kommen. Maryanne freut sich sicher.«
»Danke für dein Angebot. Aber da Nathan bereits schläft, wäre es ein Jammer, ihn zu wecken.«
»Catherine ...« James’ Tonfall blieb ruhig und geduldig, und er sprach, als rede er mit einem kleinen Kind. »Du hast doch nicht ernsthaft vor, deinen Sohn die Nacht am Schauplatz eines Selbstmordes verbringen zu lassen!«
»Nein, aber ich möchte, dass er in seinem gemütlichen Zimmer schläft.«
»Du meine Güte, alles ist hier ist voller Fingerabdruck-Pulver. Wie willst du das einem Vierjährigen erklären? Ganz zu schweigen von dem Geruch!«
»Ich weiß, was für meinen Sohn das Beste ist.«
»Wirklich?« James lächelte sie an. »Wie bei Prudence?«
Catherine presste die Lippen zusammen.
Es gab nichts, was sie darauf erwidern konnte.
»Ich möchte ja kein Salz in offene Wunden streuen«, fuhr James fort, »aber vielleicht bist du ja nicht so gut über die Vorgänge in deinem eigenen Haushalt im Bilde, wie du glaubst. Offenbar war Prudence schwer getroffen von Jimmys Tod. Und was in Nathan vorgeht ...«
»Raus.«
»Aber, Catherine ...«
»Raus!«
James trug immer noch ein gefrorenes väterliches Lächeln auf dem Gesicht. Als er ihre Schultern umfassen wollte, wirbelte sie zu dem immer noch lauschenden Polizisten herum. »Ich möchte, dass dieser Mann geht.«
»Catherine ...«
»Haben Sie mich verstanden?« Sie wies mit dem Finger auf den Polizisten, der verdattert blinzelte, vor Schreck darüber, dass er in diese Auseinandersetzung hineingezogen wurde. »Dieser Mann ist in meinem Haus nicht willkommen. Begleiten Sie ihn hinaus.«
James ließ noch immer nicht locker. »Catherine, du stehst unter Schock, du bist nicht ganz bei dir ...«
»Officer, muss ich erst Ihren Vorgesetzten anrufen? Schaffen Sie diesen Mann aus meinem Haus!«
Der junge Mann löste sich von der Wand und nahm, ein wenig verspätet, Haltung an. Als er
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