Lauf, wenn du kannst
vortrat, senkte James die Stimme, sodass nur Catherine ihn hören konnte.
»Meine Geduld ist allmählich zu Ende, Catherine.«
»Raus!«
»Denk an meine Worte. Du wirst noch dein blaues Wunder erleben. Ich habe Macht, Catherine, und du ahnst ja gar nicht ...«
»Raus, habe ich gesagt!« Inzwischen schrie sie, und der Lärm weckte Nathan auf, der sofort zu weinen begann. Endlich hatte der Polizist den Raum durchquert, und als er James am Ellenbogen berührte, blieb diesem nichts anderes übrig, als zu gehorchen.
»Es tut mir schrecklich leid, dass ich dich aufgeregt habe, mein Kind«, verkündete dieser laut und für die Ohren des Polizisten bestimmt. »Natürlich wollten Maryanne und ich nur das Beste für unseren Enkel. Vielleicht in der Früh, wenn du dich wieder beruhigt hast ...«
Mit einer steifen Geste wies Catherine auf die offene Tür. James nickte kühl. Im nächsten Moment stand Catherine allein da und lauschte dem von Schluckauf unterbrochenen hysterischen Schluchzern ihres Sohns.
Immer eins nach dem anderen ...
Sie ging in den Salon und hob Nathan aus dem Kissenberg. Er schlang ihr die mageren Ärmchen um den Hals und presste sich fest an sie. »Licht, Licht, Licht«, schluchzte er. »Licht, Licht, Licht!«
»Pssst ... pssst ...«
Die Vorhalle kam nicht mehr in Frage. Zu dunkel und zu fremd. Ihr Sohn brauchte jetzt einen tiefen, ungestörten Schlaf in einem grell erleuchteten Raum, wo die vielen Lampen die Dämonen vertrieben und wo er sich endlich beruhigen konnte. Vielleicht war es für sie ja auch das Beste.
Inzwischen war der Polizist zurückgekehrt. Zweifellos hatte James dem Mann gesagt, es sei überflüssig, ihn bis auf die Straße zu begleiten. Er werde keine Schwierigkeiten machen, sondern wolle nur seiner Familie helfen. Seine Schwiegertochter sei psychisch labil, man weiß ja, wie das ist ...
Catherine holte tief Luft, schlang die Arme fest um Nathan, sah dem Polizisten in die Augen und verkündete: »Ich bringe ihn jetzt in sein Zimmer und mache die Tür zu. Wir beide müssen schlafen. Falls es noch etwas gibt, kann das bis morgen warten.«
»Ja, Ma’am«, erwiderte der Polizist und klang dabei nur ein kleines bisschen sarkastisch.
Catherine drehte sich um, bevor sie der Mut verließ, und stieg die Treppe hinauf.
Inzwischen war der Geruch verflogen. Vermutlich war er mit Prudences Leiche abtransportiert worden. Sie hatte gesehen, wie das Mädchen auf einer Metalltrage aus dem Haus gerollt worden war. Allerdings konnte sie es noch immer nicht wirklich fassen, und das Bild von Prudence, wie sie mit Nathan auf dem Boden saß und ihm vorlas, ließ sich mit der Prudence im schwarzen Leichensack nicht in Einklang bringen. Die Vorstellung, dass Prudence nun tot sein sollte, hatte etwas Unwirkliches. Es war eher, als sei sie an ihrem freien Tag ausgegangen und einfach nicht zurückgekommen.
Für Catherine war es leichter so. Nicht, weil ihr das Mädchen so am Herzen gelegen hätte - offen gestanden hatte Prudence ihr nicht mehr bedeutet als ihre Vorgängerinnen sondern wegen der Art und Weise, wie sie zu Tode gekommen war. Mit gebrochenem Genick, an einem Balken in ihrem Schlafzimmer hängend - ein Gedanke, der in Catherine abgrundtiefes Grauen auslöste. Das hieß, dass jemand in ihr Zuhause eingedrungen war, ein Mann, der ihr und den Menschen in ihrem Umfeld Schaden zufügen wollte. Und es bedeutete auch, dass sie die Nächste sein würde, wenn sie sich nicht den Forderungen ihres Schwiegervaters beugte und Nathan herausgab.
Sie dachte an James’ leise Drohung, er werde ihr das Leben zur Hölle machen. Er habe die Macht dazu. Sie sei ein Nichts.
Höhnisch fügte sie in Gedanken hinzu, dass er ihr damit nichts Neues sagte.
Kurz vor ihrer Begegnung mit Jimmy war ihr Leben an einem Tiefpunkt angelangt gewesen. Ihre Mutter war tot, überall herrschte nur Leere. Tag für Tag stand Catherine in einem Kaufhaus, verspritzte Parfüm und versuchte, nicht mit der Wimper zu zucken, wenn ein Mann nach dem anderen ihr Avancen machte. Sie musterte die vielen Männergesichter und fragte sich, wer von ihnen wohl seine Rinder unsittlich berührte oder seine Frau verprügelte. Dann ging sie nach Hause in ihre von Kakerlaken verseuchte Wohnung und träumte von ewiger Dunkelheit.
Und dann kam der Morgen, an dem sie es einfach nicht mehr aushielt. An dem sie den Gedanken nicht mehr ertragen konnte, auch nur einen weiteren Tag in ständiger Angst zu verbringen.
Sie war in die Badewanne
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