Lauf, wenn du kannst
Harris das Thema. »Catherine war erst zwölf, als Richard Umbrio sie auf offener Straße entführte. Früher war ich Polizist bei der Mordkommission von Baltimore. Doch ganz gleich, mit wie vielen Fällen man es auch zu tun hatte, Kindesentführungen nehmen einen immer am meisten mit. Die arme Kleine ging von der Schule nach Hause, und ehe sie sich versah, wurde sie in ein Auto gezerrt. Wahrscheinlich hat sie geschrien wie am Spieß, aber niemand hat etwas gehört. Außerdem war Richard nicht unbedingt ein schmales Handtuch. Er gehörte nicht zu den verweichlicht aussehenden Kinderschändern, die sich an die Kleinen heranmachen, weil sie Angst vor erwachsenen Frauen haben. Nein, im zarten Alter von zwanzig Jahren war Richard Umbrio eins fünfundneunzig groß und wog einhundert Kilo. Seine Nachbarn hatten sich schon angewöhnt, die Straßenseite zu wechseln, um bloß keinen Blickkontakt mit ihm aufnehmen zu müssen. Catherine hingegen wog vielleicht vierzig Kilo. Wie hätte sich ein kleines Mädchen wie sie gegen so einen Hünen wehren sollen? Ich kann dazu nur sagen, dass der Platz in der Hölle bestimmt nicht für die vielen Dreckschweine reicht, die hier auf Erden herumlaufen.
Richard brachte sie in den Wald, nicht weit entfernt von seinem Haus, und versteckte sie in einem Erdloch, wo er sie nach Belieben besuchen konnte, ohne dass jemand etwas hörte. Sie bekam von ihm eine Kaffeedose als Toilette, einen Krug Wasser und einen Laib Brot. Mehr nicht. Keine Taschenlampe, keine Liege und auch keine Decke, um sich zu wärmen. Er hielt sie da unten wie ein Tier. Und fast einen Monat lang machte er mit ihr, was er wollte und wann immer es ihm in den Kram passte.
Man muss sich mal überlegen, was so ein systematischer Missbrauch in einem Kind anrichtet. Und man fragt sich, wie sie sich wohl gefühlt haben mag. Stundenlang allein in der Dunkelheit, und wenn sie doch einmal Gesellschaft bekam, war es die eines Serienvergewaltigers. Da gerät man beim bloßen Gedanken in Wut.«
Bobby sagte noch immer nichts. Doch er hatte den Kiefer vorgeschoben und die seitlich herabhängenden Hände zu Fäusten geballt. Außerdem hatte er den Verdacht, dass das Schlimmste erst noch kommen würde. Das hier war nur Vorspiel. Harris musste sich noch warmlaufen.
»Vielleicht hatte Catherine ja Glück, dass sie gefunden wurde«, sprach der Privatdetektiv weiter. »Vielleicht aber auch nicht. Wie kann ein Mensch so etwas verkraften? Ist es wirklich möglich, dass ein Mädchen all das einfach vergisst und wieder ein ganz normales Leben führt?«
Harris wartete einen Moment und fuhr dann fort: »Sobald Nathan geboren wurde, konnte Catherine nicht mehr schlafen. Jimmy ertappte sie dabei, dass sie im Haus umherirrte und panisch sämtliche Lichter anknipste. Wenn er sie zu Bett brachte, sprang sie sofort wieder auf. Wenn er die Lampen ausschaltete, machte sie sie wieder an, einschließlich des Birnchens im Backofen. Und es waren nicht nur diese merkwürdigen Angewohnheiten. Wenn sie Nathan in den Arm nahm, hielt sie ihn steif vom Körper weggestreckt. Sie trug das immer lauter schreiende Baby herum wie eine Suppendose, für die sie keinen Platz zum Abstellen fand. Am dritten Tag traf Jimmy sie an, wie sie sich, ein Kissen in der Hand, über das Kinderbettchen beugte. Als er sie fragte, was sie da täte, erwiderte sie, Nathan habe ihr gesagt, er sei müde und müsse schlafen. In seinem Entsetzen rief Jimmy seine Eltern an. Die Gagnons kamen zu dem Schluss, dass man Catherine nicht mehr mit Nathan allein lassen dürfe, und machten sich auf die Suche nach einem Kindermädchen.
Nachdem das Kindermädchen im Haus war, beruhigte sich die Situation ein wenig. Das lag hauptsächlich daran, dass Catherine das Baby weggab, ohne es eines weiteren Blickes zu würdigen. Und zwar buchstäblich. Das Kindermädchen nahm den Kleinen, und Catherine machte sich auf den Weg in den nächsten Schönheitssalon. Wie Sie sich vorstellen können, war Jimmy ein wenig enttäuscht. Er hatte geglaubt, eine reizende junge Frau geheiratet, ja, sie sogar gerettet zu haben, und so belohnte sie nun seine Großzügigkeit. Sie ließ ihr Kind im Stich, reiste durch ganz Europa und trieb sich mit einer Horde von Kerlen herum, die sie ihre ›Jungs‹ nannte. Der Gerechtigkeit halber muss man hinzufügen, dass Jimmy auch nicht unbedingt das Sinnbild ehelicher Treue war. Aber als glückliches Paar konnte man die beiden beim besten Willen nicht bezeichnen.«
»Warum hat Jimmy sich
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