Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lauf, wenn du kannst

Lauf, wenn du kannst

Titel: Lauf, wenn du kannst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
Vom Netzwerk:
Leben.«
    »Trauen Sie ihr allen Ernstes zu, ihr eigenes Kind zu töten, um sich an ihrem Mann zu rächen?«
    Harris zuckte nur die Schultern. »Männer mögen gewalttätig sein, Officer Dodge, aber sehen wir den Tatsachen ins Auge – Frauen sind grausam.«

11
     
    Der Mann saß an einem Tisch eines Straßencafes an der Faneuil Hall, blickte finster in seinen doppelten Mokka mit aufgeschäumter Milch und betrachtete dann seine Umgebung. Was zum Teufel war nur aus dieser Gegend geworden? Die Faneuil Hall, an die er sich erinnerte, hatte reizende kleine Boutiquen, alte Irish Pubs und viele Läden mit kitschigen Souvenirs beherbergt. Doch nun gab es hier The Disney Store, Gap und Ann Taylor. Aus der historischen Markthalle war ein albernes Einkaufszentrum geworden, das besser in eine langweilige Vorstadt gepasst hätte. So viel zum Thema Fortschritt.
    Der Mann schnaubte verächtlich, kostete seinen doppelten Mokka mit Milch und verzog prompt das Gesicht. Und das, obwohl er sich nun schon seit zehn Jahren darauf freute, endlich dieses Getränk zu probieren. Bis heute hatte er nur im Fernsehen zuschauen dürfen, wie die Serienhelden, Rockstars und Filmschauspielerinnen in schicken kleinen Cafes herumlungerten und sich an einem doppelten Sojairgendwas oder einem großen fettfreien Mokkafragmichnicht labten. Sie trugen enge Kleidung, schlürften ein mit reichlich Koffein versetztes Gebräu und brausten dann in ihrem Eddie-Bauer-Geländewagen, eine Jennifer-Aniston-Kopie an ihrer Seite und einen hechelnden Golden Retriever auf dem Rücksitz, davon. Willkommen im amerikanischen Traum.
    Nun, so viele mit sehnsüchtigem Warten verbrachte Jahre später, hatte der Mann seine Antwort: Ein doppelter Mokka mit aufgeschäumter Milch schmeckte nur unwesentlich besser als Katzenpisse. Er hatte keine Bilder von Geländewagen, Fußballspielen oder makellos gepflegten Rasenflächen vor Augen, sondern fragte sich nur, wie er sich bloß so über den Tisch ziehen lassen und eine derartige Unsumme für diese abscheulich schmeckende Brühe hatte bezahlen können. Er spielte mit dem Gedanken, zur Theke zurückzukehren. Dort würde er sich direkt vor der schwarzhaarigen Kassiererin mit den zahlreichen Gesichtspiercings und der blasierten Miene aufbauen, ohne ein Wort zu sagen. Er würde einfach nur dastehen und sie anstarren. In spätestens sechzig Sekunden würde sie ihm sein Geld zurückgeben.
    Dann würde sie zur Hintertür hinauseilen, um sich eine dringend benötigte Zigarette zu gönnen, ziemlich verstört, ohne wirklich zu wissen, warum.
    Das war der Moment, in dem er gerne ihr Gesicht sehen würde, denn im vergangenen Vierteljahrhundert hatte ihm eines ganz besonders gefehlt: der Anblick eines Mädchengesichts, in dem Angst stand. Von geweiteten Augen und Pupillen, die sich verdunkelten, während die Haut eine aschfahle Färbung annahm. Und dann der köstlich erregende Moment, wenn sich der wahre Schrecken in ihren Zügen ausbreitete und ihr klar wurde, dass es hier um mehr ging als nur um ein unbestimmtes Gefühl der Bedrohung. Wenn sie begriff, dass er sie tatsächlich töten würde. Dass sie nun ihm gehörte und ihm hilflos ausgeliefert war.
    Der Mann war achttausenddreihundertunddreiundsechzig Tage eingesperrt gewesen. Mit gerade einmal zwanzig Jahren war er hinter Gittern gelandet. Ja, er war ein Hüne, außergewöhnlich stark und, wie seine Nachbarn vor Gericht ausgesagt hatten, »beängstigend und seltsam« gewesen. Aber dennoch nur ein Junge.
    Und nun, vor nur wenigen Stunden, war er im hohen Alter von vierundvierzig Jahren wieder offiziell Zivilist geworden. Wie er wusste, ging der Bewährungsausschuss davon aus, dass ihn die Jahre ruhiger gemacht hatten. Ebenso wie man glaubte, die hinter Betonmauern produktiv verbrachte Zeit hätte ihn von seinen niederen Instinkten befreit. Nach fast fünfundzwanzig Jahren Haft sei er doch sicherlich ein braver Junge geworden. Er dachte darüber nach. Nein. Offen gestanden hatte er große Lust, jemanden umzubringen.
    Zwei Mädchen schlenderten vorbei. Achtzehn, neunzehn Jahre alt. Eine der beiden bemerkte, dass er sie ansah, zeigte ihm den Stinkefinger und wackelte im Vorbeigehen kurz mit dem Hinterteil. Ihre Jeans saßen so tief und so eng, dass sie aussahen wie auf ihren Po aufgemalt. Der Mann murmelte leise ein einziges Wort, worauf das Mädchen den Schritt beschleunigte und seine überraschte Freundin mitzog. Schmunzelnd ließ der Mann sie gehen. Es entschädigte ihn fast für den

Weitere Kostenlose Bücher