Lauf, wenn du kannst
schlechten Kaffee.
Seinen Aufenthalt m Walpole hatte er in Schutzhaft begonnen, in der Zelle für »Spitzel und Kinderschänder«, einem an ein Wohnheimzimmer erinnernden Raum der mittleren Sicherheitsstufe mit zwei Betten. »Bauen Sie bloß keinen Mist«, hatte sein Pflichtverteidiger ihn streng ermahnt. »Ein Typ wie Sie kann es gar nicht besser treffen.«
In der ersten Nacht hatte sich sein Zellengenosse in einer Ecke zusammengekauert und ihn angefleht, ihn nicht zu vergewaltigen. Angewidert hatte er das schluchzende Häufchen Elend betrachtet. Er trieb es doch nicht mit Kerlen!
In der zweiten Nacht hatte der Zellengenosse dann zu weinen angefangen. Daraufhin hatte er seinen niederen Instinkten nachgegeben und den kleinen Stinker bewusstlos geprügelt. Endlich war Ruhe gewesen. Allerdings hatte es ihm eine Disziplinarstrafe eingebracht. Und einen guten Ruf.
Damals wusste er es noch nicht, aber die Falken beobachteten ihn schon, und die Gefängnis-Gerüchteküche machte Überstunden. Nach dem gewalttätigen Übergriff wurde er in den allgemeinen Vollzug verlegt, und das wirkliche Abenteuer begann. Als Weißer hatte man im Gefängnis zwei Möglichkeiten: Entweder trat man der arischen Bruderschaft bei, um sich gegen die Schwarzen und die Latinos zu schützen, oder man fand zu Gott. Allerdings konnte man sich in den Betonmauern von Walpole nicht unbedingt auf Gottes Hilfe verlassen. Und so wurde aus dem Jungen ein Neonazi.
Er lernte viel. Zum Beispiel, wie man Löcher in die Rigipswand seiner Zelle bohrte und sie mit einer Mischung aus Zahnpasta und Modellbaulack wieder verschloss, um Drogen zu verstecken. Wie man Zigaretten, Kokain, Heroin oder was auch immer in aufgekrempelten Hosenbeinen transportierte. Wie man Rasierklingen am Eisengestell des Bettes oder im Toilettenspülkasten so anbrachte, dass unerfahrene Wachbeamte sich die Finger daran zerschnitten.
Wie man inmitten von schmutzigen, ungepflegten und zornigen Männern überlebte. Wie man vor Zuschauern pinkelte. Wie man vor Zuschauern schiss. Wie man im Halbschlaf unterschied, bei welchem Geschrei man aufstehen musste und bei welchem man besser liegen blieb. Wie man einen qualvollen Tag nach dem anderen in stickiger Klimaanlagenluft überstand, die nach Urin und Glasreiniger stank.
Aber er lernte nicht schnell genug. Sie erwischten ihn im zweiten Jahr. Die Boston Red Sox versuchten gerade, die World Series zu gewinnen, und das Wachpersonal saß gebannt vor dem Fernseher. Die Latinos erschienen aus dem Nichts und vermöbelten ihn ordentlich. Die Wachen hatten angeblich nichts gesehen. Ebenso wie seine beiden Kumpane von den Neonazis, die den Blick keinen Moment vom Bildschirm abwendeten.
Er war groß. Er war stark. Und er war bösartig. Es gelang ihm, einigen der Angreifer Rippen, Nasenbeine und Handgelenke zu brechen. Dann jedoch traf einer mit einem selbst gebastelten Messer seine Niere, sodass er umkippte wie ein angeschossenes Rhinozeros. Sie ließen ihn zum Verbluten auf dem Fußboden liegen.
Erst dann erschien einer seiner weißen Brüder. »Kinderficker«, zischte der Neonazi und spuckte ihm ins Gesicht.
Noch als er verkrümmt auf dem Betonboden lag, während sich eine Blutlache um sein Gesicht bildete, begann er, Pläne zu schmieden.
Die Gefängnisverwaltung war nicht dumm. Eine Zurückverlegung in den allgemeinen Vollzug hätte sein Todesurteil bedeutet. In Schutzhaft war er jedoch eine Gefahr für seinen Zellengenossen. Was also tun?
Deshalb steckte man ihn als letzte Möglichkeit in Einzelhaft. Er brauchte nur eine Woche, um herauszufinden, dass der Schwachkopf von einem Anwalt Recht gehabt hatte: Eine Unterbringung in der mittleren Sicherheitsstufe war das Beste, was einem Kerl wie ihm passieren konnte.
Nun musste er seine Zeit allein in einer eins achtzig mal zwei Meter großen Zelle totschlagen. Eine Stunde täglich durfte er hinaus, um sich in einem eingezäunten Hof von der Größe eines Hundezwingers die Beine zu vertreten oder sich der Körperpflege zu widmen. Durch ein rechteckiges Fenster, etwa so groß wie sein Gesicht, konnte er zusehen, wie sich die zuvor grünen Blätter golden und schließlich braun verfärbten. Er beobachtete, wie die belaubten Bäume kahl wurden und wie sich Schnee auf ihren Ästen sammelte. Die Jahreszeiten schleppten sich qualvoll langsam dahin, Monat um Monat, Jahr um Jahr.
Das einzige, worauf er sich noch freuen konnte, war, irgendwann den Posten eines »Läufers« zu ergattern, eines Häftlings,
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