Lauf, wenn du kannst
so wie mit einem Kind. »Es wird eine Anhörung stattfinden, in der die Sorgerechtsfrage geklärt werden soll. Heute Nachmittag hatte ich einen Termin mit meinem Anwalt. Die Gagnons werden Zeugen benennen, die aussagen werden, dass ich eine schlechte Mutter bin. Also brauche ich ebenfalls Zeugen, die bestätigen, dass ich eine gute Mutter bin. Oder zumindest«, fügte sie hinzu, »dass ich für Nathan keine Bedrohung darstelle.«
»Wo ist Nathan jetzt?«
»Im Krankenhaus. Er hat Bauchspeicheldrüsenentzündung.«
»Solltest du nicht auch dort sein? Solltest du nicht bei deinem Kind sein?«
»Natürlich sollte ich dort sein!« Sie bemühte sich, ruhig durchzuatmen. »Aber ich bin hier, Dad, um mit dir über Nathans Zukunft zu sprechen. Denn ich will meinen Sohn nicht verlieren.«
»Die Gagnons sind keine schlechten Großeltern«, meinte er.
»Nein, ich bin sicher, dass sie Nathan auf ihre Weise lieben.«
»Er ist alles, was sie jetzt noch haben.«
»Er ist auch alles, was ich noch habe.«
»Ich denke, sie werden gut für ihn sorgen«, erwiderte ihr
Vater.
Catherine blinzelte. Sie fühlte sich ein wenig benommen. »Das würde ich auch tun.«
Schließlich sah ihr Vater sie an, und sie war erschrocken über die Trauer, die sich in seinem Gesicht malte. »Früher warst du so ein glückliches Kind.«
»Dad.«
»Ich habe mir die alten Filme angeschaut. Ich habe nämlich den Speicher aufgeräumt und ein bisschen ausgemistet. In letzter Zeit macht mir die Arthritis immer mehr zu schaffen, und das Treppensteigen fällt mir schwer. Also dachte ich, ich sortiere die Kartons besser jetzt, solange ich das noch kann. Dabei habe ich die alten Filmrollen gefunden. Gestern Abend habe ich sie mir angesehen.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. In den Augen ihres Vaters funkelten Tränen.
»Du warst so hübsch«, flüsterte er. »Du trugst dein Haar in einem Pferdeschwanz mit einer großen roten Schleife. Deine Mutter hat es dir jeden Morgen gekämmt, und dann hast du dir für den Tag ein Band ausgesucht. Rot war deine Lieblingsfarbe, gleich gefolgt von Rosa. Du warst im Garten. Ich glaube, es war dein Geburtstag, obwohl keine Torte im Bild war. Andere Kinder waren zu Besuch, und wir hatten das Planschbecken gefüllt. Du hast gelacht und im Wasser herumgetollt, und als ich den Gartenschlauch eingeschaltet habe, hast du gekreischt.
Du hast gelacht«, wiederholte er, fast hilflos. »Catherine, ich habe dich seit mehr als zwanzig Jahren nicht mehr lachen sehen.«
Es schnürte ihr die Brust zu. Sie wusste, dass sie etwas sagen sollte, aber sie schüttelte nur den Kopf, als wollte sie seine Worte zurückweisen.
»Deine Mutter hat dich so geliebt.« Unvermittelt stand er auf und wandte sich ab. »Ich bin froh, dass sie tot ist. So musste sie wenigstens nicht mehr erleben, was geschehen ist.«
»Dad ...«
»Mit dir stimmt etwas nicht, Catherine. Du bist zu uns zurückgekehrt, und der Himmel weiß, wie dankbar wir waren, dich aus dieser Hölle wiederzubekommen. Aber mit dir stimmt etwas nicht. Unser kleines Mädchen ist an diesem Tag gestorben, und ich kenne die Frau nicht, die heute vor mir steht. Du lachst nicht mehr. Und manchmal frage ich mich, ob du überhaupt etwas fühlst.« Erneut schüttelte sie den Kopf, aber er nickte mit Nachdruck, so als hätte er am Ende einer sehr, sehr langen Reise schließlich sein Ziel erreicht. Wieder drehte er sich um und blickte ihr in die Augen.
»Du solltest ihnen Nathan überlassen.«
»Er ist mein Sohn.«
»Sie sind sehr wohlhabend und werden sich gut um ihn kümmern. Vielleicht finden sie ja auch einen Arzt, der ihm helfen kann.«
»Ich habe versucht, den richtigen Arzt für ihn aufzutreiben!«
Ihr Vater sprach weiter, als hätte er sie nicht gehört. »Sie könnten ihn zu einem Therapeuten bringen. Wahrscheinlich hättest du das schon längst tun sollen.«
Catherine stand auf. »Du bist mein Vater, und ich bitte dich um deine Unterstützung. Rann ich auf dich zählen?«
»Es wäre nicht richtig.«
»Kann ich auf dich zählen?«
Als er nach ihrer Hand griff, zog sie sie zornig zurück. Er lächelte sie traurig an. »Du warst ein glückliches Kind«, meinte er leise. »Und möglicherweise ist es noch nicht zu spät. Mit fachlicher Hilfe könntest du es schaffen, wieder glücklich zu werden. Wie sehr hat deine Mutter sich danach gesehnt. Selbst, als sie schon Krebs hatte, betete sie nie für ihr eigenes Überleben, sondern immer dafür, dich wieder lächeln zu sehen.
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