Lauf, wenn du kannst
hatte sie sich gefragt, warum es nicht einen von ihnen getroffen hatte. Warum waren nicht sie dem blauen Chevy begegnet? Weshalb hatten nicht sie sich verleiten lassen, stehen zu bleiben und bei der Suche nach einem angeblich entlaufenen Hund zu helfen?
Mein Gott, wie sehr es ihr widerstrebte, in diese Straße einzubiegen.
Catherine stellte ihren Mercedes in der Auffahrt ab. Ihr Vater hatte die Terrassenbeleuchtung angelassen, sodass die niedrige Backsteinmauer und die vier Stufen der Vortreppe gut zu sehen waren. Catherine holte tief Luft, sagte sich, dass sie nicht von ihrem Ziel abweichen durfte, und stieg aus.
Eisige Kälte schlug ihr entgegen, und sie begann, heftig zu zittern. Dann blickte sie die Straße hinauf, wo sich die Dunkelheit unter den Bäumen verdichtete und einen nachtschwarzen Tunnel bildete, aus dem es kein Entrinnen gab. Als sie in die andere Richtung schaute, sah sie dasselbe.
Und plötzlich wurde sie von einem unbändigen Hass auf diese Straße ergriffen. Auf das Haus, den Garten, die in den Siebzigern erbaute Siedlung. Ein ungnädiges Schicksal hatte ihre Eltern damals hierher geführt. Und soweit es Catherine betraf, hatten sie die Grausamkeit ganz bewusst fortgeschrieben, indem sie hier geblieben waren.
»Schließlich ist nicht das Viertel schuld«, hatte ihr Vater ihrer Mutter immer wieder und wieder gesagt, nachdem es geschehen war. »Es war ein einzelner Mann. Was wird Catherine glauben, wenn wir jetzt umziehen?«
Ich hätte geglaubt, dass ich euch wichtig bin.
Catherine holte tief Luft und bemerkte, dass sie im Begriff war, die Beherrschung zu verlieren. Sie ballte fest die Fäuste. Denk an etwas Schönes, befahl sie sich leicht verzweifelt. Zum Teufel damit, fügte sie hinzu und ging zur Tür.
Ihr Vater erwartete sie schon. Als sie die Stufen hinaufging, öffnete er die Holztür, sodass sie nur noch die Fliegengittertür aufklappen musste, während er ihr geduldig Platz machte.
Drinnen nahm er ihr den Mantel ab. »Wie war die Fahrt?«, fragte er wie immer.
»In Ordnung.«
»Viel Verkehr?«
»Ging so.«
»Aber die Rückfahrt in die Stadt an einem so Samstagabend ...«, brummte er.
»Ich kriege das schon hin.«
Wieder ließ er eine Bemerkung über den Verkehr fallen – er mochte, die Gegend, in der sie wohnte, ebenso wenig wie inngekehrt – und wies dann mit einer vagen Geste in das kleine Wohnzimmer. Es war noch immer mit demselben goldbraunen Teppichboden und dem braun geblümten Sofa ausgestattet. Catherine hatte sich erboten, ihm neue Möbel zu kaufen, aber er hatte abgelehnt. Das Sofa sei bequem, der Teppich praktisch. Er brauche keinen Schnickschnack.
Die Hände auf den Knien, nahm Catherine auf der Kante des schmalen Zweisitzers Platz. Wenn sie dieses Zimmer betrat, fühlte sie sich stets wie in einer Zeitmaschine, und sie wusste nicht, wo sie hinschauen oder wie sie sich fühlen sollte. Heute suchte sie sich eine Stelle auf dem Teppich aus und fixierte sie mit Blicken.
»Ich muss etwas mit dir besprechen«, begann sie leise. »Hast du Durst? Möchtest du etwas trinken?«, versuchte er, seine Unruhe zu überspielen.
»Nein.«
»Ich habe Limo da. Du hattest doch schon immer eine Schwäche für Kräuterlimonade.«
»Ich habe keinen Durst, Dad.«
»Was ist mit Wasser? Nach so einer langen Fahrt bist du doch sicherlich halb verdurstet. Ich hole dir ein Glas Wasser.« Catherine gab den Widerstand auf. Er trottete in die Küche und brachte zwei mit Gänseblümchen bedruckte Plastikbecher voll Wasser. Dann ließ er sich in dem braunen Fernsehsessel mit der ausklappbaren Fußstütze nieder. Sie blieb auf dem Sofa sitzen und trank schließlich doch einen Schluck Wasser.
»Du weißt, was passiert ist«, sagte sie zu guter Letzt.
Offenbar brachte ihr Vater es nicht über sich, sie anzusehen, denn sein Blick huschte unruhig durch den Raum, bis er an dem Porträt ihrer Mutter über dem Kaminsims hängen blieb. Sie fand, dass sein Gesicht alt und traurig wirkte.
»Ja«, erwiderte er nur.
»Tut mir leid, dass es so geendet hat. Es tut mir leid ... es tut mir leid, dass Jimmy tot ist.«
»Er hat dich geschlagen«, entgegnete ihr Vater. Es war das erste Mal, dass er das so deutlich aussprach.
»Ab und zu.«
»Er war kein guter Mann.«
»Nein.«
»War sein Geld dir denn so wichtig?«, fragte ihr Vater dann, und sein plötzlich zorniger Tonfall erschreckte sie.
Catherine hatte Mühe, sich zu beherrschen, und ihre Hände bebten heftiger. Als sie noch einen Schluck
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