Lauf, wenn du kannst
Aber du hast es nie getan. Deine Mutter lag im Sterben, und dir war es nicht zuzumuten, auch nur einmal die Mundwinkel nach oben zu ziehen.«
»Du bist sauer auf mich, das steckt also dahinter! Du bist sauer, weil ich nicht lächeln konnte, als meine Mutter im Sterben lag? Du ... du ...«
Ihr fehlten die Worte, und vor Entsetzen und Wut war sie so verdattert, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Wenn sie es nur bis zum Kamin schaffen würde, um sich an der hölzernen Umrandung festzuhalten, damit sie nicht stürzte. Doch im nächsten Moment hatte sie ganz deutlich das Bild vor Augen, wie sich ihre Hand um den Kerzenleuchter aus Messing legte, der dort stand, und wie sie ihrem Vater damit den Schädel einschlug.
Sie hatte das Gefühl, neben sich zu stehen, und war nicht sicher, was sie mehr erschreckte – ihre tiefe Trauer oder ihre rasende Wut.
»Danke, dass du mir deine Zeit geopfert hast«, hörte sie sich sagen, ließ ihre Hände fallen und zwang sich, die Fäuste zu lockern. Sie holte Luft, atmete aus, und wie der senkte sich Ruhe über sie. Eisig, ja. Aber besser für sie und besser für ihren Vater, als wenn sie ihren wahren Gefühlen nachgegeben hätte.
Catherine griff nach ihrem Mantel und steuerte gemessenen Schrittes auf die Tür zu.
Ihr Vater stand hinter ihr auf der Schwelle und blickte ihr nach, während sie die Treppe hinunter zum Auto ging. Als er ihr zum Abschied nachwinkte, musste sie sich beim Anblick dieser alltäglichen Geste auf die Unterlippe beißen, um nicht laut loszuschreien.
Mit bedachten Bewegungen legte sie den Rückwärtsgang ein und rollte langsam aus der Auffahrt. Bremsen, auf Drive schalten, Gaspedal suchen. Mit überhöhter Geschwindigkeit brauste sie die Straße entlang, die Lippen noch immer zu einem bleichen Strich zusammengepresst.
Sie brauchte Leumundszeugen, da hatte ihr Anwalt kein Blatt vor den Mund genommen. Wenn sie keine Fürsprecher fand, würden die Gagnons gewinnen und ihr Nathan wegnehmen. Wahrscheinlich würde sie ihn nie wieder sehen.
Dann würde sie allein sein. Und mittellos.
O Gott, was sollte sie nur tun?
Sie war völlig durcheinander und geistesabwesend und zermarterte sich das Hirn nach einer Lösung. Und deshalb dauerte es auch eine Weile, bis es ihr auffiel. Erst an der dritten oder vierten Kreuzung bemerkte sie es, als sie endlich in den Rückspiegel sah.
Jemand hatte ihren eigenen Lippenstift benutzt, der auf der Konsole zwischen den Sitzen lag.
Es war ihre Lieblingsfarbe von OPI, ein tiefes Scharlachrot, so wie eine Rose zum Valentinstag oder frisches Blut.
Die Botschaft war ganz einfach.
Sie lautete nur: Buh!
13
Bobby fuhr nach Hause. Auf seinem Anrufbeantworter hatten sich etwa dreißig Nachrichten angesammelt. Neunundzwanzig stammten von sensationslüsternen Reportern, von denen ihm jeder einzelne versprach, er werde im Austausch für ein Exklusivinterview – habe ich auch erwähnt, dass es exklusiv ist? – Bobbys Version der Geschichte erzählen. Der dreißigste Anruf war von seinem Lieutenant, der ihn zum Abendessen zu sich nach Hause einlud.
»Kommen Sie doch vorbei«, sagte Bruni auf dem Band des Anrufbeantworters. »Rachel hat ein halbes Rind gebraten, und dazu gibt es fünf Kilo Kartoffelpürree. Also können wir uns so richtig überfressen, unhöfliche Geräusche machen und ein bisschen fachsimpeln. Es wird sicher lustig.«
Bruni war ein netter Mensch, der sich um sein Team kümmerte und für Zusammenhalt sorgte. Seine Einladung war ehrlich gemeint, und eigentlich hätte Bobby hingehen sollen. Es hätte ihm gut getan, aus dem Haus zu kommen, und außerdem verhindert, dass er sich weiter in Schwierigkeiten brachte. Aber er wusste bereits, dass er ablehnen würde.
Er kehrte dem blinkenden Gerät den Rücken zu und ging in seine winzige Küche, wo er den Kühlschrank öffnete und einen Blick in den leeren Innenraum warf.
Am liebsten hätte er Susan angerufen. Aber was hätte er ihr sagen sollen? Ich bin ein Riesenblödmann und ein Vollidiot. Noch schlimmer, ich bin ein Mörder. Das klang alles nicht sehr vielversprechend. Und es hätte nichts an den Tatsachen verändert.
Pizza, sagte er sich. Er würde zur Pizzeria an der Ecke gehen und sich eine Pizza zum Mitnehmen besorgen. Doch beim Gedanken an Pizza musste er auch an Bier denken. Und beim Gedanken an Bier bekam er Herzklopfen, und das Wasser lief ihm im Munde zusammen. Ja, das war die Lösung. Zum Teufel mit diesem Gutmenschen von einem Lieutenant. Zum
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