Lauf, wenn du kannst
Wasser trinken wollte, zitterte der Becher in ihrer Hand. Am liebsten wäre sie einfach hinausgerannt.
»Er hat sich um Nathan gekümmert.«
»Er hat sich einen Dreck für euch interessiert, und das weißt du ganz genau.«
»Dad ...«
»Du hättest ihn verlassen sollen.«
»Es ist komplizierter ...«
»Er hat dich geschlagen, und du hättest ihn verlassen sollen. Du hättest hierher kommen können.«
Catherine öffnete den Mund. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Dieses Angebot hatte ihr Vater bis jetzt nie gemacht. Eigentlich hatte er überhaupt niemals ein Wort über ihre Ehe verloren. Er war bei der Hochzeitsfeier gewesen, wo er Jimmy die Hand geschüttelt und ihm als ihrem neuen Ehemann alles Gute gewünscht hatte. Anschließend war er mit seinen Kartenabenden, seinen Veteranentreffen und seinem Alltag voll und ganz beschäftigt gewesen. Zu Thanksgiving und zu Weihnachten war er bei ihren Schwiegereltern erschienen, hatte einen Happen Truthahn gegessen, Nathan ein Geschenk überreicht, Catherine auf die Wange geküsst, und das war es dann gewesen. Denn schon im nächsten Moment hatte er sich wieder aus dem Staub gemacht, zurück in das Viertel, das er liebte und das sie verabscheute. Manchmal fragte sie sich, ob alles anders gekommen wäre, wenn ihre Mutter noch gelebt hätte. Doch das würde sie nie erfahren.
»Es spielt keine Rolle mehr«, sagte sie schließlich.
»Vermutlich nicht.« Ihr Vater trank einen Schluck.
»Allerdings gibt es da ein Problem. Die Gagnons, Jimmys Eltern, haben mich verklagt. Sie wollen das Sorgerecht für Nathan.« Catherine reckte das Kinn. »Angeblich misshandle ich mein Kind.«
Zunächst erwiderte ihr Vater nichts, trank von dem Wasser, drehte den beschlagenen Plastikbecher in der Hand und nahm dann noch einen Schluck. Das Schweigen zog sich in die Länge. Catherine verstand die Welt nicht mehr. Wo war die aufgebrachte Empörung? Warum verteidigte er seine Tochter nicht? Vor einer Minute noch hatte er behauptet, sie hätte sich wegen ihrer gescheiterten Ehe jederzeit hilfesuchend an ihn wenden können. Weshalb also sagte er nichts?
»Wegen der Krankheiten?«, fragte ihr Vater schließlich. »Sie werfen mir vor, ich würde Nathan quälen. Ihm etwas ins Essen tun oder so. Ihrer Ansicht nach mache ich ihn absichtlich krank.«
Ihr Vater blickte auf. »Und stimmt das?«
»Dad!«
»Er ist oft im Krankenhaus.«
»Er ist krank!«
»Die Ärzte haben nie etwas gefunden.«
»Er hat Bauchspeicheldrüsenentzündung. Jetzt, in diesem Augenblick. Ruf doch Dr. Rocco an. Oder sonst jemanden in diesem verdammten Laden.« Catherine sprang auf. »Er ist mein Sohn! Ich habe mich für ihn abgestrampelt wie eine Wilde, weil ich nur sein Bestes wollte. Wie kommst du darauf ... Wie kannst du es wagen, verdammt!«
Inzwischen schrie sie, kreischte wie eine Verrückte, sodass die Venen an ihrem Hals hervortraten. Und kurz huschte ihr durch den Kopf, dass sie das eigentlich schon seit Tagen tun wollte, seit Dienstagmorgen, als sie den Telefonhörer aufgenommen und gehört hatte, wie Jimmy ganz lässig mit seinem Anwalt über seine Scheidungspläne sprach.
»Sind Sie wirklich sicher, dass sie leer ausgeht?«, hatte er den Anwalt gefragt. »Ich will nicht, dass sie auch nur einen roten Heller kriegt.«
»Kein Nathan, kein Geld«, versicherte der Anwalt. »Dafür ist gesorgt. In einer Stunde sind die Unterlagen fertig.«
»Ich liebe meinen Sohn!«, brüllte sie nun ihren Vater an. »Warum glaubt mir denn niemand, dass ich Nathan liebe?«
Und dann brach sie zusammen. Ihre Beine gaben nach, sodass sie mit zuckenden Schultern auf das grässliche braune Sofa sank. Ein seltsames Glucksen stieg aus ihrer Kehle auf. Ihre Selbstbeherrschung war wie weggeblasen, und sie versank in der Angst vor einer fernen Zukunft, in der Jimmy fort war, es keinen Nathan mehr gab und sie wieder in ihrer von Ratten verseuchten Wohnung hausen musste, ohne Familie, ohne Geld, ganz allein. Ein blauer Chevy würde um die Ecke biegen. Ein Loch würde sich im Boden auftun. Und dann würde sie rettungslos verloren sein.
Ihr Vater saß ihr noch immer gegenüber und betrachtete weiter unverwandt das Porträt ihrer Mutter. Das gab ihr endlich wieder Kraft. Sie riss sich zusammen und wischte sich mit dem Handrücken über die trockenen Augen. »Wirst du mich unterstützen?«, erkundigt sie sich ruhig. »Brauchst du Geld?«
»Nein, Dad.« Ihre Stimme wurde wieder schrill. Aber sie zwang sich, ganz langsam zu sprechen,
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