Lauf, wenn du kannst
morgens. Verdammt, er brauchte dringend seinen Schlaf. »Was ist?«, fragte er.
»Haben Sie Freunde bei der Bostoner Polizei?«, erkundigte sich Harris. »Ich glaube, da gibt es einen Tatort, den Sie sich ansehen sollten.«
»Wen hat es erwischt?«
Harris hielt kurz inne. »Dr. Tony Rocco. Tiefgarage des Krankenhauses. Ziehen Sie keine guten Schuhe an. Soweit ich gehört habe, ist es eine ziemliche Schweinerei.«
Detective D.D. Warren war nun schon seit über acht Jahren bei der Bostoner Polizei. Sie war eine zierliche Blondine mit geschmeidiger Figur und hinreißenden blauen Augen und in einer engen Jeans, hochhackigen Stiefeln und einer karamellfarbenen Lederjacke am Schauplatz von Dr. Roccos Ermordung erschienen. Sex and the City trifft New York Cops. Viele Kollegen starrten unverhohlen hin. Aber da D.D. bereits mit ihrem Job verheiratet war, hatte keiner von ihnen eine Chance.
Sie und Bobby kannten sich schon seit Jahren und waren vor einer Ewigkeit eine Weile miteinander gegangen, als sie beide noch neu im Geschäft gewesen waren, sie bei der Stadt, er beim Staat. Außerdem hatten sie, auch wenn sie nicht für denselben Arbeitgeber tätig waren, Verständnis dafür, welche zeitliche Belastung dieser Beruf mit sich brachte. Bobby erinnerte sich nicht einmal, warum sie sich eigentlich getrennt hatten. Wahrscheinlich waren sie zu beschäftigt gewesen. Doch eigentlich spielte es keine Rolle. Als Freunde kamen sie besser miteinander klar. Er freute sich darüber, dass sie so rasant Karriere gemacht hatte – sie würde sicher bald Lieutenant sein –, während sie sich stets für seine Arbeit bei STOP interessierte.
Nun jedoch spähte D.D. in einen dunkelgrünen BMW 450i und kaute dabei an ihrer Unterlippe. Auf der anderen Seite des Wagens war ein mit einer Kamera bewaffneter Spurensicherungsexperte eifrig beim Fotografieren. Das Klicken des Auslösers und das Surren des weitertransportierten Films hallten durch die gewaltige Tiefgarage aus Beton wie eine Begleitmusik zu Bobbys herannahenden Schritten.
Für diese Uhrzeit, es war drei Uhr morgens, ging es in der Tiefgarage ziemlich geschäftig zu. Der Transporter des Leichenbeschauers, der Kleinbus der Spurensicherung, einige Streifenwagen, die Autos, in denen die Detectives gekommen waren, und eine elegante Limousine, die Bobby als die des stellvertretenden Staatsanwalts erkannte. Viel Verkehr für einen Mord. Ein ziemlich großes Aufgebot.
Bobby stand der Atem in eisigen Wolken vor dem Mund. Die Hände tief in den Taschen seiner Daunenjacke, tat er sein Bestes, um nicht aufzufallen. Einige Köpfe wandten sich in seine Richtung. Er kannte ein paar Gesichter, andere waren ihm fremd. Aber natürlich wussten alle, wer er war, und trotz seiner Bemühungen ging ein Raunen durch die Menge, als er den BMW erreichte.
»Hallo, Bobby«, sagte D.D., ohne aufzublicken.
»Tolle Stiefel.«
Sie ließ sich davon nicht täuschen. »Bist aber reichlich spät unterwegs«, meinte sie.
»Konnte nicht schlafen.«
»Hat das Telefon dich geweckt?« Endlich sah sie ihn an. »Du hast gute Ohren, Bobby, denn schließlich tun wir unser Möglichstes, um den Fall nicht an die große Glocke zu hängen.«
Er verstand die Frage zwar, beschloss aber, sie nicht zu beantworten. »Wäre es ein großes Problem für dich, wenn ich in der nächsten Stunde da drüben an der Säule lehne und meine Fingernägel anschaue?«
»Ich würde sagen, dass hier Sperrgebiet für Maniküre ist.« D.D. wies mit dem Kopf nach links, wo Bobby Staatsanwalt Rick Copley erkannte, mit dem Gerichtsmediziner ins Gespräch vertieft. Bei Bobbys letzter Begegnung mit Copley hatten dessen Männer sich einen Spaß daraus gemacht, die Schuld an der Schießerei einem geplagten Staatspolizisten in die Schuhe zu schieben. Also war davon auszugehen, dass sich Copley bei Bobbys Anblick sicher nicht vor Begeisterung überschlagen würde.
»Kurze Zusammenfassung?«, fragte er D.D. leise.
Wieder sah sie ihn vielsagend an. »Wie oft werden wir auf deinen Namen stoßen, wenn wir die letzten Stunden des Opfers nachvollziehen?«
»Ein Mal. An diesem Nachmittag. Ich habe ihn heute zum ersten Mal gesehen und ihm ein paar Fragen über Nathan Gagnon gestellt.«
Rasch zählte sie eins und eins zusammen. »Ach, Mist. War er der Arzt des Kleinen?«
»Ja.« – »Was noch?«
»Er hatte eine Affäre mit der Mutter des Jungen. Außerdem war er schon im Hinblick auf einen möglichen Sorgerechtsstreit zwischen den Eltern befragt
Weitere Kostenlose Bücher