Lauf, wenn du kannst
fünfzig Metern Entfernung mitgehört habe.«
»Lassen Sie das meine Sorge sein. Sie hat meinen Sohn auf dem Gewissen, Officer Dodge. Und zwar so, als ob sie eigenhändig abgedrückt hätte. Ich werde nicht tatenlos daneben stehen und zulassen, dass diese Frau meinem Enkel ebenfalls Schaden zufügt. Helfen Sie mir, und ich kümmere mich darum, dass das alberne Verfahren gegen Sie eingestellt wird. Widersetzen Sie sich, werde ich Sie so lange vor Gericht zerren, bis Sie ein gebrochener alter Mann ohne Beruf, ohne Zuhause, ohne Würde und ohne Identität sind. Sie können jeden beliebigen Anwalt fragen: Ich habe die Möglichkeit dazu. Dazu braucht man nur Geld und Zeit.« James breitete die Hände aus. »Und offen gestanden habe ich von beidem mehr als genug.«
Bobby stand auf. »Ich denke, dieses Gespräch ist jetzt beendet.«
»Ich setze Ihnen eine Frist bis morgen. Sagen Sie ja, und das Verfahren ist Schnee von gestern. Außerdem werden wir Harris’ kleines Forschungsprojekt vergessen. Doch nach siebzehn Uhr werden Sie mich nicht mehr in so versöhnlicher Stimmung antreffen.«
Bobby ging zur Tür. Gerade streckte er die Hand nach dem Messingknauf aus, als Maryannes Stimme ihn innehalten ließ.
»Er war ein guter Junge.«
Bobby holte tief Luft, drehte sich um und fragte so freundlich er konnte: »Ma’am?«
»Mein Sohn. Vielleicht hat er manchmal ein bisschen über die Stränge geschlagen. Aber hatte auch gute Seiten. Als er sieben war, wurde bei einem seiner Freunde Leukämie diagnostiziert. In diesem Jahr gaben wir für Jimmy eine große Geburtstagsparty, und er bat alle Gäste, anstelle von Geschenken eine Spende an die Krebshilfe zu leisten. Als Student hat er sich sogar beim Selbstmordnotruf engagiert.«
»Mein Beileid.«
»An jedem Muttertag hat er mir eine einzelne rote Rose geschenkt. Keine aus dem Gewächshaus, sondern eine richtige, die roch wie die Gärten meiner Jugend. Jimmy wusste, wie sehr ich diesen Duft liebe. Er verstand, dass ich Atlanta bis heute manchmal vermisse.« Als Maryanne ihn ansah, war endloser Schmerz in ihren Augen. »Wenn wieder Muttertag ist«, murmelte sie, »was soll ich dann tun? Sagen Sie es mir, Officer, wer wird mir meine Rose schenken?«
Bobby konnte ihr nicht helfen. Er ging hinaus, während sich hinter ihm ihre Trauer Bahn brach und sie bitterlich zu schluchzen begann. James hatte bereits die Arme um seine Frau gelegt, und Bobby hörte seine Stimme, als sich die Tür hinter ihm schloss. »Pssst. Alles wird gut, Maryanne. Bald haben wir Nathan bei uns. Denk nur an Nathan. Pssst ...«
17
Als Catherine aufstand, war Prudence bereits ausgegangen. Sonntags hatte das Kindermädchen seinen freien Tag und nicht die Absicht, auch nur eine Minute davon zu verschwenden. Catherine konnte das nur recht sein. Die Sonne schien, ein fast unerträglich blauer Himmel wölbte sich und sah aus, wie es nur ein Neuengland-Himmel an trocken-kalten Novembertagen vermag. Trotzdem ging Catherine von Zimmer zu Zimmer und machte Licht. Sie überlegte, ob sie vielleicht dabei war, den Verstand zu verlieren.
Hatte sie letzte Nacht überhaupt geschlafen? Sie war nicht sicher. Hin und wieder hatte sie geträumt, also musste doch Schlaf im Spiel gewesen sein. Sie hatte Nathan an dem Tag gesehen, als er geboren wurde. Seit drei Stunden hatte sie gepresst. Fast geschafft, fast geschafft, sagte der Arzt immer wieder. Schon vor zwei Stunden hatte sie zu schreien aufgehört und keuchte inzwischen nur noch wie ein krankes Tier im Stall. Die Ärzte logen, Jimmy log. Sie lag im Sterben, und das Baby riss sie entzwei. Wieder eine Wehe. Pressen, rief der Arzt. Pressen, rief Jimmy. Sie biss sich auf die Unterlippe und drückte verzweifelt.
Nathan schoss so schnell heraus, dass er dem Arzt durch die wartenden Hände flutschte und auf dem mit einem Laken bedeckten Boden landete. Der Arzt jubelte. Jimmy jubelte. Sie stöhnte nur. Dann legten sie ihr den kleinen Nathan auf die Brust. Er war blau, winzig und mit Schleim überzogen.
Sie wusste nicht, was sie denken oder fühlen sollte. Aber dann bewegte Nathan seine winzigen Lippen und suchte nach ihrer Brust, und sie stellte fest, dass sie plötzlich zu plappern begann wie eine Idiotin. Sie weinte dicke Tränen, die ersten echten Tränen, die sie seit ihrer Kindheit vergossen hatte. Sie weinte um Nathan, wegen dieses wunderschönen neuen Lebens, das aus der Wüste ihrer Seele entsprungen war, wegen des Wunders, das sie niemals für möglich gehalten
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