Lauf, wenn du kannst
hätte. Und sie weinte, weil ihr Mann sie an sich drückte, weil ihr Baby sich an sie kuschelte und weil sie sich für den Bruchteil einer Sekunde nicht allein fühlte.
Sie hatte von ihrer Mutter geträumt. Catherine sah sie auf der Schwelle ihres Kinderzimmers stehen. Sie selbst lag, die Augen verzweifelt aufgerissen, in ihrem schmalen Bett. Sie musste wach bleiben, denn wenn sie einschlief, würde die Dunkelheit kommen, und in der Dunkelheit würde er sein. Ihr den Kopf auf seinen Schoß zwingen. Der Geruch, der Geruch, der Geruch. Das Grunzen, wenn er in sie hineinstieß wie ein Kamel, das versuchte, sich durch ein Nadelöhr zu zwängen. Die Schmerzen, die Schmerzen, die Schmerzen. Oder es würde noch schlimmer werden. Die Tage und Wochen, als er sie gar nicht mehr zu zwingen brauchte. Als sie einfach tat, was er verlangte, weil Widerstand sowieso zwecklos war und weil die Erniedrigungen keine Rolle mehr spielten, denn das kleine Mädchen, das in dieses Höllenloch geworfen worden war, das gab es nicht mehr. Nur noch ihr Körper war übrig, eine verdorrte Hülle, die willenlos mitmachte und dankbar war, dass er überhaupt zu ihr zurückkehrte.
Eines Tages würde er wegbleiben. Das war ihr klar. Eines Tages würde er ihrer überdrüssig sein, sodass sie hier unten sterben musste. In der Dunkelheit und allein. Im Haus waren nicht genug Lampen. Drei oder vier vielleicht. Es war fünf Uhr morgens. Catherine sammelte alle Kerzen ein. Taschenlampen waren auch recht nützlich. Das Lämpchen im Backofen. Die Nachtbeleuchtung für den Wasserspender in der Kühlschranktür. Die Neonröhren unter den Hängeschränken in der Küche. Die Schrankinnenbeleuchtung. Das Feuer in den beiden Gaskaminen. Sie ging von Zimmer zu Zimmer und schaltete alles ein. Sie brauchte Licht. Sie musste Licht haben. Sie hatte von Jimmy geträumt. Einem lächelnden Jimmy. Einem glücklichen Jimmy. Hallo, was muss ein Mann tun, um einen Spritzer Parfüm abzukriegen? Einem wütenden Jimmy. Einem betrunkenen Jimmy. Einem eiskalten Jimmy. Sind Sie wirklich sicher, dass sie leer ausgeht? Ich will nicht, dass sie auch nur einen roten Heller kriegt.
So viel hatte sie von Jimmy geträumt, dass sie um sechs Uhr morgens im Bett hochfuhr und ins Bad stürzte, um sich zu übergeben.
Buh!, flüsterte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. Buh!
O bitte, lieber Gott, lass Jimmy endlich tot sein.
Inzwischen war es kurz vor neun. Besuchszeit im Krankenhaus. Catherine hatte bereits vier Mal angerufen. Nathan war wach. Sie konnte ihn sehen.
Zum Teufel damit. Sie vertraute dem Krankenhaus nicht. Die Sicherheitsvorkehrungen waren zu lax. Sie würde ihren Sohn mit nach Hause nehmen.
Catherine hatte den Mantel an und den Schlüssel in der Hand. Ein letzter Rundgang durchs Haus. Richtig, die Kerzen. Sie ging von Zimmer zu Zimmer und pustete einen brennenden Docht nach dem anderen aus. Als sie gerade wieder nach unten kam, fiel ihr der Elektroschocker ein. Sie hatte einen im Safe. Also kehrte sie nach oben ins Schlafzimmer zurück, um sich für den Kampf gegen den namenlosen Feind zu rüsten.
Wer hatte Buh! auf ihren Rückspiegel geschrieben? Wer würde so etwas tun? Sie wollte lieber nicht zu viel darüber nachdenken. Es gab zwar einige Antworten, aber die meisten machten ihr Angst.
Der Safe stand weit offen, wie die Polizei ihn zurückgelassen hatte. Sie blickte hinein. Der Elektroschocker war weg. Mistkerle. Wahrscheinlich hatten sie ihn als Beweismittel sichergestellt. So als ob der Elektroschocker sie gegen Jimmys Pistole hätte schützen können.
Frisch gestärkt von der Wut, ging sie wieder nach unten und steuerte auf die Eingangstür zu. Ins Krankenhaus, zu Nathan. Gerade hatte sie die Hand nach dem Türknauf ausgestreckt, als es auf der anderen Seite klopfte. Catherine fuhr zurück und presste die Hand an die Brust wie nach einem Schlag. Es klopfte erneut.
Ganz langsam hielt sie das Auge an den Spion.
Drei Leute standen draußen. Polizei.
Nein, dachte sie verzweifelt. Nicht jetzt. Nathan war allein. Wussten sie denn nicht, dass jederzeit ein Mann in einem blauen Chevy um die Ecke biegen konnte?
Es klopfte wieder. Widerstrebend öffnete Catherine die Tür.
»Catherine Gagnon?«, fragte der Mann, der ganz vorne stand. Seine Nase war eingedrückt, als hätte er zu oft eine ins Gesicht bekommen, was nicht zu seinem schicken grauen Anzug zu passen schien.
»Wer sind Sie?«
»Richard Copley, stellvertretender Bezirksstaatsanwalt von Suffolk County. Ich bin in
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