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Lauf, wenn du kannst

Lauf, wenn du kannst

Titel: Lauf, wenn du kannst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lisa Gardner
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an, Euer Ehren. Und das von einem Mann, den die Staatsanwaltschaft als Experten hinstellen will.«
    Vielleicht konnte er ja gar nicht mehr auf Pappkameraden schießen. Vielleicht gab man sich, nachdem man einen echten Menschen erschossen hatte, nicht mehr mit so etwas zufrieden.
    Der Gedanke bedrückte ihn. Seine Augen brannten. Er war traurig und wütend. Und er wusste nicht mehr, was zum Teufel er eigentlich empfinden sollte.
    Bobby legte die .38er weg und griff nach der .45er. Dann legte er auch sie wieder weg und blieb einfach reglos in der Halle stehen, kniff sich, um Fassung ringend, den Nasenrücken zusammen, ohne das Gefühl in Worte fassen zu können.
    Am anderen Ende des Schießstands feuerte J.T. Dillon, der beste Mann des Schützenverbandes von Massachusetts, einen Schuss nach dem anderen ab. Nach einer Weile trat Bobby von der Schusslinie zurück in den Schatten und sah dem älteren Mann zu.
    An diesem Nachmittag benützte Dillon eine Pistole Kaliber .22, die kaum an eine wirkliche Waffe erinnerte. Der Griff war riesengroß, bestand aus Holz und sah weniger wie ein Pistolengriff als wie ein grob gehauenes Stück Baumstumpf aus. Der versilberte Lauf hatte ein quadratisches Ende, die Visiervorrichtung war hellrot. Im Großen und Ganzen hatte das Schießeisen Ähnlichkeit mit einer Waffe aus »Krieg der Sterne«.
    Allerdings kostete die maßgefertigte, extra leichte, aus Italien stammende Pistole mehr als fünfzehnhundert Dollar. Nur große Jungs verwendeten solche Waffen, und in Sportschützenkreisen galt Dillon als einer der ganz Großen.
    Dillon gehörte dem Internationalen Sportschützenverband an, der als die Kampfsportgruppe der Combatschützen galt. Die Mitglieder wurden nach Zeit und Treffsicherheit bewertet, während sie sich in einer Reihe absonderlicher Disziplinen maßen, so zum Beispiel im Schießen aus dem Sattel, beim Laufen durch Großstadtstraßen mit einem an der Schusshand angeketteten Aktenkoffer oder beim bewaffneten Kampf im Dschungel, natürlich mit einem geschienten Knöchel. Je schwieriger und unangenehmer die Aufgabe, desto beliebter war sie bei den Teilnehmern.
    Leute wie Dillon pflegten zu sagen, dass das Scheibenschießen und die Scharfschützenübungen, die Bobby absolvierte, waren, als würde man dem Gras beim Wachsen zusehen. Erst beim Combatschießen ginge es wirklich zur Sache.
    Nun beobachtete Bobby, wie J.T. seine maßgefertigte Pistole lud, sie in die schwächere linke Hand nahm und rasch hintereinander sechs Schüsse abgab. Mühelos. Ruhig. Ohne mit der Wimper zu zucken.
    Bobby brauchte nicht auf die Zielscheibe zu schauen, um zu wissen, dass jeder dieser sechs Schüsse getroffen hatte. Dillon ging es ebenso. Er lud bereits wieder nach. Inzwischen kannte Bobby sämtliche Gerüchte – Dillon sei ein ehemaliger Marineinfanterist und unehrenhaft entlassen worden. Er habe früher in Arizona gelebt und dort angeblich einen Mann getötet. Vielleicht lag es an der gezackten Narbe an seinem Brustbein, die manchmal kurz zu sehen war. Oder an seinem sehnigen, hageren Körperbau, an dem sich auch mit zunehmendem Alter nichts änderte. Oder daran, dass Dillon dank seiner dunklen, finster dreinblickenden Augen selbst mit knapp fünfzig noch jeden Mann in Grund und Boden starren konnte.
    Bobby wusste nicht, ob eines dieser Gerüchte stimmte. Allerdings hatte er als Angehöriger der Staatspolizei von Massachusetts eine Information über ihn, die allen anderen fehlte. Vor zehn Jahren war Jim Beckett, ein ehemaliger Polizist und Serienmörder, aus dem Hochsicherheitsgefängnis von Walpole ausgebrochen. Während seiner wenigen kurzen Monate in Freiheit hatte Beckett eine blutige Schneise der Verwüstung bei verschiedenen Polizeiorganisationen geschlagen, indem er eine Reihe von Staatspolizisten, einen Scharfschützen und einen FBI-Agenten ermordete.
    Bobby kannte zwar nicht sämtliche Einzelheiten, doch soweit er gehört hatte, war Jim Beckett zu guter Letzt nicht von Polizisten zur Strecke gebracht worden, sondern von Dillon. Und zwar, nachdem Beckett seine Schwester getötet hatte.
    Nun schaute Dillon von seiner Pistole auf, und sein und Bobbys Blick trafen sich.
    »So eine miserable Ballerei habe ich ja noch nie gesehen«, meinte Dillon.
    »Ich überlege, ob ich die Zielscheibe verbrennen soll.«
    »Vorausgesetzt, Sie treffen sie mit dem Streichholz.«
    Bobby konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Stimmt.«
    Während Dillon durchs Visier spähte, kam Bobby näher. Obwohl sie

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