Lauf, wenn du kannst
sich dem Namen nach kannten, hatte er bis jetzt kaum ein Wort mit Dillon gewechselt.
Dillon hatte seine Zielscheibe auf fünfzehn Meter zurückgeschoben und visierte sie nun, die Waffe noch immer in der linken Hand, an. Er holte Luft. Atmete aus. Holte noch einmal Luft, und Bobby spürte seine Konzentration, als könne man sie mit Händen greifen. Als Dillons Finger sich sechs Mal bewegte, war es wie das zarte Flattern von Schmetterlingsflügeln im Wind. Bumm, bumm, bumm, bumm, bumm, bumm. Das Leeren des Magazins hatte nur knapp drei Sekunden gedauert.
Dillon holte die Zielscheibe heran, und Bobby schüttelte den Kopf. Diesmal hatte Dillon mit seinen Schüssen einen Stern gezeichnete, anstatt einfach nur ins Schwarze zu treffen.
»Angeber«, sagte Bobby.
»So habe ich wenigstens etwas, was ich meinen Mädchen mitbringen kann.«
»Ihren Töchtern?«
»Ja. Ich habe zwei. Eine ist sechzehn, die andere sechs.«
»Schießen sie auch?«
»Die Ältere. Samantha. Sie ist ziemlich gut.«
Bobby konnte zwischen den Zeilen lesen. Wenn Dillon seine Tochter als ziemlich gut bezeichnete, hieß das, dass Bobby vermutlich keine Chance gegen sie gehabt hätte. Angesichts dessen, was Bobby über halbwüchsige Jungen wusste, war das eine nicht zu verachtende Fähigkeit.
»Und die jüngere?«
»Lanie? Die schlägt nach ihrer Mutter. Sie hasst das Geknalle. Aber dafür hat sie andere Talente. Sie sollten sie mal auf einem Pferd sehen.«
»Schön.« Bobby half Dillon, die ausgeworfenen Patronenhülsen einzusammeln. Das Messing war das Teuerste an einem Projektil, und ernsthafte Schützen sammelten die Hülsen gern wieder ein, um sie bei der Herstellung ihrer maßgefertigten Munition wiederzuverwenden. »Verheiratet?«, fragte Bobby.
»Zehn Jahre«, erwiderte Dillon. Zehn Jahre, und dann eine sechzehnjährige Tochter. Bobby rechnete nach und gab es auf.
»Was macht Ihre Frau?«
»Tess ist Kindergärtnerin. Und bewacht unsere Mädchen. Ansonsten versucht sie zu verhindern, dass ich in Schwierigkeiten gerate.«
»Klingt wie ein gutes Leben«, meinte Bobby.
»Ist es auch.«
»Tja, ich sollte besser noch ein bisschen üben.« Aber Bobby blieb stehen. Dillon musterte ihn erwartungsvoll. Schützen verstanden einander auf ihre ganz eigene Weise. Für sie ging es um die Kunst und die Technik des Schießens an sich, und sie wussten genau, dass Scharfschützen sich nicht für diesen Beruf entschieden hatten, weil sie zukünftige Dirty Harrys oder einsame Revolverhelden waren, die schon auf das nächste Duell brannten. Bobby übte diese Tätigkeit wegen der Herausforderung aus, nicht um jemandem Schaden zuzufügen.
»War es schwierig?«, fragte Bobby leise. »Ich meine, danach.«
»Nach was? Nachdem ich den Mann in Arizona erschossen hatte? Oder nach Beckett?«
»Ist egal.«
»Tut mir leid, mein Junge, aber ich habe noch nie jemanden getötet.«
»Nicht einmal Jim Beckett?«
»Nein.« Dillon lächelte verlegen und lockerte dann seine Schulter. »Was allerdings nicht daran liegt, dass ich es nicht versucht hätte.«
»Oh«, sagte Bobby und klang dabei enttäuschter, als es ihm recht war.
Dillon sah ihn eine Weile nachdenklich an und wies schließlich auf die leere Halle um sie herum. »Vor zehn Jahren«, verkündete er, »hätte ich nie gedacht, dass ich mal hier landen könnte. Oder dass ich einmal eine Frau und zwei Töchter haben würde.
»Wegen Beckett?«, erkundigte sich Bobby.
»Wegen einer ganzen Menge von Dingen. Auch wenn ich noch nie einen Menschen getötet habe, war ich einige Male im Leben nah dran.« Dillon zuckte die Achseln. »Ich weiß noch, wie es ist, dazusitzen, abzuwarten und einen menschlichen Kopf im Fadenkreuz zu haben. »In dieser Situation habe ich nicht viel nachgedacht.«
»Natürlich nicht, schließlich waren Sie viel zu beschäftigt. Sie haben Ihre Arbeit erledigt. Und jetzt, in all den Stunden und Tagen danach, in den Momenten, wenn Sie endlich zur Ruhe kommen, fangen Sie an, zu grübeln.«
»Ich sage mir ständig, dass es keine Rolle spielt. Was vorbei ist, ist vorbei.«
»Ein guter Rat.«
»Warum kann ich ihn dann nicht befolgen?«
»Das werden Sie nie schaffen. Wollen Sie über Reue sprechen? Davon kann ich Ihnen etwas erzählen, Officer Dodge. Ich kann Ihnen eine ganze Liste von Leuten nennen, die ich hätte retten oder töten sollen.«
»Aber Sie tun es nicht.«
»Sie müssen sich etwas suchen, Officer Dodge, das Ihnen Halt und einen Grund gibt, sich sogar an schlechten Tagen darauf
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