Lauf, wenn es dunkel wird
heiser.
»Sehen?«, wiederholte er. »Darf man das bei dir sagen?«
Ihre Lippen verzogen sich fast zu einem Lächeln. »Ach, die Leute hängen sich da viel zu sehr dran auf. Es ist ja nicht so, dass ich vergesse, dass ich blind bin, wenn sie das Wort nicht mehr benutzen. Mein Dad versucht sogar, nicht mehr >Wir sehen uns später< zu sagen. Ich erkläre ihm dauernd, dass es doch nur ein Wort ist. Jeder gebraucht es. Ich benutze es auch ständig.« Sie zögerte kurz und sagte dann schnell: »Ich weiß noch, wie es war, als ich sehen konnte. Wenn ich morgens aufwache, denkt ein Teil von mir, dass ich mein Zimmer sehen werde, sobald ich die Augen öffne, oder was draußen vor dem Fenster ist, verstehst du. Und ich kann mich immer noch daran erinnern, wie alles aussieht.«
Cheyennes Gesicht war zwar nach wie vor blass, aber voller Leben. Griffin mochte es irgendwie, dass er sie so lange anschauen konnte, wie er wollte, ohne dass es ihr etwas ausmachte. Aber sobald ihr starrer Blick - oder das, was danach aussah - seinen traf, schaute er trotzdem weg, gerade so als könnte sie ihn sehen.
Plötzlich mutig geworden, fragte er: »Also, wie sehe ich aus?«
»Du?«
Er wurde rot und war froh, dass sie ihn nicht sehen konnte. »Vergiss es.«
Sie machte weiter, als hätte er nichts gesagt. »Mal sehen.
Du bist ungefähr 1,80 groß und wiegst 77 Kilo. Du bist stark und ich glaube, dass deine Haare dunkel sind. Du hörst dich zumindest so an, als hättest du dunkle Haare. Und aus irgendeinem Grund glaub ich, dass du eine große Nase hast. Ich mein, es ist nicht so eine kleine Stupsnase, nicht so eine Mädchennase.«
Er starrte sie überrascht an. Es stimmte - alles, was sie gesagt hatte, stimmte. Seine Größe und sein Gewicht waren wahrscheinlich nicht so schwer, zu erraten, nicht nachdem sie heute schon zweimal miteinander gekämpft hatten. Vielleicht war sie auch gegen seine Nase gestoßen, immerhin hatte sie sein Gesicht zerkratzt. Er wusste, es war seltsam, aber während sie ihn beschrieb, hatte er die ganze Zeit darauf gewartet, dass sie die hässliche rote Narbe erwähnen würde, die wie ein Band um seinen Hals lief.
»Und ich?«, fragte Cheyenne. »Wie sehe ich aus?«
Griffin war verdattert. »Ähm, weißt du das nicht?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Ich hab mich seit drei Jahren in keinem Spiegel mehr gesehen. Ich weiß nicht mehr, wie ich aussehe. Das letzte Mal, als ich mich gesehen habe, war ich dreizehn.«
Flirtete sie etwa mit ihm? Ihr Gesicht sah offen und ehrlich aus. Sicher, so hatte sie auch ausgesehen, als sie behauptet hatte, sie müsste auf die Toilette. Er betrachtete ihre dunklen Locken, ihre olivfarbene Haut und ihr herzförmiges Gesicht.
»Du bist hübsch«, sagte er in einem Tonfall, der keine weiteren Fragen mehr zuließ. »Du bist hübsch, okay.« Er merkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte.
Cheyenne sah kurz überrascht aus, dann verschwand jede Regung aus ihrem Gesicht. »Die Fernsehnachrichten müssten jetzt anfangen«, sagte sie. »Können wir sie bitte anschauen?«
Griffin fragte sich, ob das wieder irgendein Trick war. Vielleicht wollte sie ja nur in einem anderen Teil des Hauses sein, damit sie ein Telefon finden konnte. Stille breitete sich aus, und Griffin schwieg lange, damit sie auch wusste, wie viel sie von ihm verlangte. »In Ordnung«, sagte er schließlich, »aber ich muss dich am Sofa festbinden. Und wenn mein Dad kommt und rumschreit, musst du ruhig sein und tun, was ich dir sage. Versprochen?«
»Versprochen«, antwortete sie und hob die Finger zum Schwur.
Griffin band ihren Fuß vom Bett los, nahm die Schnur in die Hand, stützte Cheyenne am Ellbogen und brachte sie ins Wohnzimmer. Einmal machte sie einen größeren Schritt und kam ins Stolpern, weil die Schnur an ihrem Fuß zu kurz war. »Entschuldigung«, sagte er und erwischte ihren Ellbogen gerade noch rechtzeitig, damit sie nicht über den Couchtisch fiel. Eigentlich war es eine riesige, hölzerne Kabeltrommel, auf der früher Drahtseil gewickelt war. Griffin manövrierte Cheyenne so, dass das Sofa genau hinter ihr stand. »Du kannst dich hinsetzen.«
Er band ihr Bein an einem der Löwenfüße des alten Sofas fest und war froh, dass sie die Flecken auf den Polstern nicht sehen konnte. Zur Sicherheit zog er das Telefonkabel aus der Wand. Dann setzte auch er sich aufs Sofa, nahm die Fernbedienung und schaltete einen Regionalsender ein.
Nach einer Werbung für eine Art Erwachsenenwindel - Griffin
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