Lauf, wenn es dunkel wird
»Hab ich dich erschreckt? Das wollte ich nicht.«
Duke winselte wieder.
Cheyenne redete die ganze Zeit weiter, langsam und beruhigend. »Hast du genug von der langen Kette? Willst du hier auch am liebsten weg? Frei sein?« Ihre Stimme war zittrig gewesen, aber jetzt wurde sie selbstbewusster. Es war ein verrückter Einfall, aber durch den Wald zu laufen und mit einer Antenne aufs Unterholz zu schlagen, war auch nicht besser. »Willst du auch einfach gehen? Willst du, Duke?«
Ganz langsam griff Cheyenne in ihre Manteltasche. Ihre Finger schlossen sich um ein Stück Trockenfutter, das sie Duke von unten zuwarf.
Duke jaulte, sie hatte ihn erschreckt. Wie oft wohl schon jemand mit einem Stein nach ihm geworfen hatte? Aber er musste verstanden haben, dass es kein Stein war. Als Nächstes gab er nämlich ein überraschtes, kleines Wuff von sich. Die Kette rasselte, und Cheyenne hörte Duke winseln, als er sich dagegenlehnte. Das Trockenfutter lag wahrscheinlich zu weit weg.
Sie warf noch ein Stück. Wieder ein Winseln. Beim dritten Mal hörte sie ein Schnüffeln, das von einem schmatzenden Schlucken gefolgt wurde, und sie wusste, dass er endlich drangekommen war.
Das nächste Stück Trockenfutter fing er aus der Luft. Sie hörte, wie seine Zähne aufeinanderklackten. Wieder ein lei ses Winseln. Wie ein Betteln.
Cheyenne fragte sich, ob Duke wohl schon jemals in seinem Leben gebettelt hatte. Und ob es überhaupt jemanden gekümmert hatte.
Mit jedem Stück Trockenfutter ging sie einen Schritt näher an ihn heran. Schließlich war sie so nah, dass sie seine Wärme spürte. Sie ballte ihre Hand zur Faust und streckte sie ihm entgegen, obwohl sie sich nicht sicher war, ob er sie nicht mit einem Happs abbeißen würde. Aber er schnüffelte nur. Sie fühlte seine feuchte, kalte Nase und dann zu ihrer Überraschung eine warme, nasse Zunge. Also war Duke doch einfach ein Hund, im Gegensatz zu dem, was alle dachten.
Cheyenne spürte mit ihren Fingern Dukes Hals entlang, bis sie die Stelle fand, an der die schwere Kette mit einem einfachen Knebelverschluss in das metallene Würgehalsband eingehakt war. Würde sie ihn an der Kette führen können? Sie entfernte sich ein paar Schritte von Duke und ließ die Kettenglieder durch ihre Finger laufen. Nein. Die Kette war viel zu schwer und zu lang.
Dann fiel Cheyenne ihr Gürtel ein. Sie ging zu Duke zurück und kraulte ihn am Kopf. Obwohl jede Faser in ihrem Körper danach schrie, so schnell wie möglich von dort wegzukommen, wusste sie, dass sie keine schnellen Bewegungen machen durfte, weil sie ihn sonst erschrecken würde. Mit der freien Hand öffnete sie die Gürtelschnalle und rollte den Gürtel ungeschickt mit einer Hand auf, bis er Schlaufe um Schlaufe aus ihrer Jeans gerutscht war.
Sie wollte nicht, dass Duke den Gürtel in ihrer Hand sah,
falls er sich davon bedroht fühlte. Wer wusste schon, ob Duke nicht vielleicht mit einem Gürtel geschlagen worden war?
Cheyenne berichtigte ihren Gedanken. Sicher war er das.
Sie hatte ihn die ganze Zeit mit der anderen Hand gestreichelt. Duke fühlte sich mit seinem kurzen, dicken Fell überhaupt nicht wie Phantom an, und trotzdem war es, als wäre Phantom jetzt bei ihr.
Nachdem sie den Gürtel komplett aus den Laschen gezogen hatte, schob sie ihn unter Dukes Halsband. Duke winselte und zitterte, als sie ihn berührte, aber ansonsten regte er sich nicht. Cheyenne fädelte den Gürtel durch die Metallöse und zog daran, bis sie eine notdürftige Leine hatte. Sie ging in die übliche Grundhaltung. Ihr linker Fuß saß vor dem rechten, der Kopf des Hundes war gleich neben ihrem linken Oberschenkel, gerade so, als hätte sie Phantom bei sich. Dann hielt sie den Atem an und hakte die Kette ab.
»Vorwärts, Duke«, sagte sie. »Komm schon, machen wir, dass wir wegkommen.«
Der Hund winselte tief in seiner Kehle, bewegte sich aber kein Stück.
»Vorwärts, Duke!«, sagte sie wieder. »Auf geht’s!« Phantom hätte gewusst, dass sie schnell loswollte, aber was wusste Duke schon? Dann spürte sie, wie er sich zusammennahm.
Und weg waren sie.
Der Wind erschafft die Bäume
Eine Sache, die Cheyenne bei der überstürzten Entscheidung nicht bedacht hatte, war, dass Duke für sie nicht »räumen« würde. Phantom war beigebracht worden, auf herabhängende Zweige achtzugehen oder auf andere Objekte, die sie treffen konnten, selbst wenn er nichts abbekommen würde. Duke war völlig ahnungslos. Und Cheyenne auch, zumindest so lange,
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