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Lauf, wenn es dunkel wird

Lauf, wenn es dunkel wird

Titel: Lauf, wenn es dunkel wird Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: April Henry
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gewesen und wusste, dass sie schnell ungeduldig wurden. Ihre Gier würde den verbliebenen Rest an gesundem Menschenverstand übertrumpfen. Sie würden sich nicht lange damit aufhalten, die einsame Geldtasche zu beäugen. Und bevor sie zurückkamen, musste Cheyenne so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Männer gebracht haben.
    Wenn sie nur Phantom bei sich hätte! Sie dachte an Duke. Bellend, unberechenbar, groß. Eindeutig gekauft, um Leuten Angst einzujagen. Mitleid stieg in ihr auf. Man konnte nicht immer sagen, wie jemand war, wenn man nur sein Äußeres betrachtete.
    Wenn sie sich einigermaßen schnell vorwärtsbewegen wollte, brauchte sie etwas, das ihr sagte, ob Hindernisse im Weg waren. Ihr Gehstock war ein Haufen geschmolzener Stangen und lag im Ofen. Was also konnte sie als Notfallgehhilfe benutzen? Als sie wach gelegen und darauf gewartet hatte, dass die Zeit vorüberging, hatte sie eine nutzlose Liste von Dingen angefertigt, die sie hier bestimmt nicht hatten - Billardstöcke, Skistöcke, Wanderstöcke, Sonnenschirme. Sie musste jetzt praktisch denken. Sie musste einen langen Ast finden, ihn abbrechen und die Zweige abmachen.
    Und dann fiel Cheyenne ein, was es hier gab. Haufenweise. Autoantennen.
    Sie öffnete die Haustür und ging die drei Treppenstufen hinunter. Ganz automatisch hatte sie die Stufen gezählt, als sie sie das erste Mal gegangen war, genauso wie die Schritte, die sie vom Auto zum Haus gebraucht hatte. Die Luft war so kalt, dass es sich anfühlte, als müsste Cheyenne sich die Lunge aus dem Leib husten. Sie atmete noch immer jedes Mal zitternd aus, aber sie verbot sich, daran zu denken, was sie getan hatte.
    Sie erinnerte sich, dass der Hof mit Müll zugepflastert war, und ging nur mit kleinen Schritten weiter. Sie tastete jedes Mal zuerst mit dem Fuß, bevor sie ihr volles Gewicht darauf verlagerte. Den rechten Arm hatte sie wie eine Stoßstange über ihren Bauch gelegt und den linken Arm schwang sie wie einen Sensor vor sich her. Sie achtete auf jedes Geräusch, jeden Geruch und jede noch so kleine Information. Ihr Orientierungs- und Mobilitätstrainer hatte versucht, ihr das Blindsehen beizubringen - manche Blinde konnten nah stehende Objekte spüren und hatten sogar eine grobe Vorstellung von ihrer Größe. Aber sie verließ sich normalerweise auf ihren Langstock oder auf ihren Hund, die ihr viel deutlichere Rückmeldungen geben konnten.
    Nach ein, zwei Minuten hatte Cheyenne Erfolg. Ihre Finger streifen einen Kotflügel. Sie fühlte am Rand des Autodaches entlang, bis sie die Antenne fand. Dann brach sie sie ab.
    Aufgeschreckt von dem Geräusch fing Duke in der Scheune plötzlich an zu bellen und durchbrach die nächtliche Stille. Als er hervorstürzte und auf Cheyenne zurannte, rasselte die Kette über den Boden.
    Cheyenne riss ihren linken Arm hoch, verdeckte ihren Hals und machte sich auf den Angriff gefasst. Aber der Aufprall blieb aus. Keine fünf Meter von ihr entfernt hörte das Bellen ganz plötzlich mit einem Würgegeräusch auf. Der Hund musste am Ende seiner Kette angelangt sein. Doch sobald er sich wieder aufgerappelt hatte, machte er mit dem Gebelle weiter. Der Lärm ließ Cheyenne zusammenzucken. Aber es gab niemanden, der darauf reagierte. Es gab nur sie beide, allein in der Dunkelheit.
    Cheyenne holte tief Luft. Atmete aus. Sie hustete ein paar Sekunden lang, unterdrückte den Drang dann aber wieder. Sie musste jetzt alles vergessen. Den Hund ignorieren. Nicht an Griffin denken. Nicht grübeln, ob er tot war. Sie musste sich darauf konzentrieren, dass sie hier weg sein wollte, bevor die Männer zurückkamen.
    Sie schwenkte die Antenne vor sich her und ging versuchsweise ein paar Schritte, doch die Antenne war viel zu kurz und nicht fest genug. Trotzdem, es war viel besser als nichts. Wenn sie erst einmal im Wald war, konnte sie die Antenne durch einen langen Ast ersetzen.
    Sie wollte gerade losgehen, als hinter ihr ein tiefes Winseln aus Dukes Kehle drang. Jetzt erst merkte sie, dass er mit dem Bellen aufgehört hatte. Sie hörte, wie er atmete. Er klang wie Phantom.
    Cheyenne drehte sich um. Sie wusste nicht, ob der Mond schien oder wie gut der Hund im Dunkeln sehen konnte, und weil sie nicht wollte, dass er dachte, sie würde ihn mit ihrem Blick herausfordern, achtete sie darauf, dass sie den Kopf zur Seite hielt. Sie war ganz still, die Arme dicht an den Körper gepresst.
    »Braver Hund«, sagte sie. Sie dehnte beide Wörter ganz lang und sprach leise.

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