Lauf, wenn es dunkel wird
knacken hörte, entspannte sich ein Teil von ihr. Was auch immer es war, es war klein. Und ganz bestimmt kein Mensch. Vielleicht ein Kaninchen oder ein Eichhörnchen oder vielleicht sogar ein Streifenhörnchen.
Duke bellte noch immer. Setzte ihm nach.
Der Gürtel ruckte in Cheyennes Hand. Und dann war er weg. Und Duke auch.
»Komm zurück!«, rief Cheyenne auf einmal außer sich. »Duke! Duke!«
So wie sein Bellen klang, rannte er von ihr weg. Schnell. Er war mindestens schon dreißig Meter weit. Cheyenne öffnete den Mund und wollte Duke noch mal rufen. Aber dann ging ihr auf, dass sie damit bloß ihre Gegenwart preisgab. Und das wahrscheinlich meilenweit. Mehr erreichte sie dadurch nicht.
Sie holte tief und zitternd Luft und sagte sich, dass sie jetzt auf sich alleine gestellt war. Das war eine Tatsache, die sie nicht ändern konnte, also musste sie damit zurechtkommen. Sie berührte das Ziffernblatt ihrer Uhr. Es war 7:33 Uhr. Sie war sich einigermaßen sicher, dass sie grob nach Nordwesten unterwegs gewesen waren. Das Grau, das sie mit dem linken Auge sehen konnte, wurde ein bisschen heller. Sie benutzte einen Baumstamm, um sich zu orientieren. Langsam ging sie im Kreis um ihn herum, bis sie etwas mehr Licht sah. Osten lag genau dort, wo sie es vermutet hatte.
Cheyenne ging in die Hocke und tastete so lange umher, bis sie auf mehrere große Äste stieß. Sie wählte den längsten und stabilsten aus und brach dann die kleineren Zweige davon ab. Es war Schwerstarbeit. Ihre rechte Hand war vor Kälte ganz steif, und ihre linke Hand, mit der sie die Behelfsleine gehalten hatte, konnte sie fast gar nicht mehr bewegen. Mit der Hand strich sie über ihre Wange. Es fühlte sich an, als ob ein Ast an ihrem Gesicht entlangstreifte. Sie konnte mit der Wange zwar ihre eiskalten Finger spüren, aber andersherum funktionierte es nicht. Ihre Hosenbeine waren inzwischen mit einem knackenden Überzug aus Eis bedeckt.
Nach vielen langen Minuten war der Ast von seinen Zweigen befreit. Es war kein Hund und kaum ein Langstock, aber er musste reichen. Als Cheyenne sich schließlich aufrichtete, machten ihre Knie nicht mit. Ein paar Schritte stolperte sie vorwärts.
Sie konnte weder ihre Füße noch die Ränder ihrer Ohren spüren. Ihre linke Hand steckte in der Manteltasche, aber sie fühlte sich immer noch tot und steif an. Und jetzt erstarrte auch allmählich ihre rechte Hand, was es schwer machte, den Behelfslangstock zu halten. Cheyenne tickte sich mit dem Stock weiter, drehte den Kopf von der einen zur anderen Seite und achtete aufmerksam auf die Klänge, die zu ihr zurückgeworfen wurden. Sie versuchte die Hindernisse zu spüren, bevor sie in sie hineinlief. Manchmal wich sie einem Baum oder Strauch erst im letzten Moment aus. Manchmal stolperte sie über Steine oder Wurzeln.
Ohne Duke als Begleitung wurde Cheyenne bewusst, wie allein sie war. Jedes Geräusch ließ sie erstarren. Gab es hier möglicherweise große Tiere im Wald - Kojoten oder sogar Pumas? Aber die Tiere, vor denen sie sich am meisten fürchtete, waren die zweibeinigen. Aus einem Busch flog plötzlich eine Krähe auf, stieß ihren rauen Krähenschrei aus und flatterte mit den Flügeln.
Jedes Knacken oder Rascheln konnte von den Entführern kommen. Jedes Mal, wenn Cheyenne ein Geräusch hörte, atmete sie tief durch und zwang sich weiterzulaufen. Sie setzte ihre Schritte so vorsichtig wie möglich. Den Kopf hielt sie zur Seite. So sehr hatte sie ihr linkes Auge noch nie beansprucht. Jetzt, wo es heller war, konnte sie gerade genug sehen, damit sie nicht in Baumstämme rannte, aber es war nicht genug, um herabhängenden Ästen auszuweichen.
Die Brust schmerzte, sie musste alle paar Minuten husten und mit jedem Mal fiel es ihr schwerer, mit dem Husten aufzuhören. Cheyenne wollte sich nur noch hinlegen. Schlief man nicht einfach ein und wachte nicht mehr auf, wenn man erfror? So würde es nicht mal wehtun. Die Vorstellung hatte etwas Verlockendes.
Auf ihrer Wange landete ein kleiner kalter Punkt, und dann noch einer auf ihren Wimpern. Schnee. Er fiel dichter und überpuderte sanft ihr Gesicht. Zu Hause hasste sie Schnee. Alle gewohnten Orientierungszeichen waren hinfällig, die unterschiedliche Beschaffenheit von Gras und Kies oder von Asphalt und Beton. Wenn es so viel geschneit hatte, dass der Schnee die Bordsteinkanten bedeckte, musste sie zu Hause bleiben, weil sie dann die Straßen nicht mehr auseinanderhalten konnte.
Hier im Wald barg der Schnee
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