Laufend loslassen
stilisierte Jakobsmuschel begleitet mich weiter.
Am Mont St. Rigaud gibt es eine heilsame Quelle gegen Hals- und Augenleiden und weibliche Unfruchtbarkeit. Die Legende erzählt, dass vor langer Zeit ein Mönch nahe einer Quelle auf dem Berg gelebt habe, der heilende Kräfte besaß und daher viele Pilger anzog, die seine Hilfe suchten. Man erzählt sich, dass er bei seinem Tod das Grundwasser der Quelle zu seinem Grab bestimmte, was den Effekt hatte, dass er dem Wasser seine medizinischen Kräfte übertrug. An jedem 16. August setzen die Pilger, welche die Quelle besuchen, ein hölzernes Kreuz auf den Hügel. Das Wasser schmeckt gut und erfrischend. Es ist drei Uhr, als ich weitergehe.
Nach dem Mont St. Rigaud läuft der Weg lange auf Asphalt. Dort kann ich leicht das Taizé-Lied „Toi, tu nous aimes, source de vie.“ als Mantra rezitieren. Es passt gut zu meinem Schrittrhythmus und hilft dabei, den Geist von unnötigen Gedanken zu leeren. Um aus der Quelle des Lebens schöpfen zu können, muss mein inneres Gefäß erst leer werden. Noch ist es voll von den Problemen der Vergangenheit, den Konzepten über meinen Pilgerweg und mit Sorgen vor der Zukunft. „Du, der uns liebt, bist die Quelle des Lebens.“ Ja, geliebt sein, angenommen zu sein mit all der inneren Last, das brauche ich dringend. Dieses Annehmen, das ich mir auch selbst gewähren muss, ist die Voraussetzung für das Loslassen und eine neue Lebendigkeit. Die Botschaft dieses Liedtextes kann ich einschreiben in mein Bewusstsein. In Tibet - habe ich gehört - sagt man, dass ein Mantra, an vierzig aufeinanderfolgenden Tagen 108 Mal mit voller Achtsamkeit rezitiert, das Bewusstsein neu ausrichtet.
Wenn es wie später über steinige Wege oder durch matschiges Terrain geht, braucht der Weg die volle Aufmerksamkeit. Ich merke, dass ich nicht mehr so geschafft bin wie in den ersten drei Tagen, aber der Rucksack scheint stärker an den Schultern zu ziehen. Anscheinend erfüllt der später zu meinem alten Tragegestellrucksack dazugekaufte Beckengurt nicht voll seinen Zweck. Gegen fünf Uhr erreiche ich Les Echarmeaux. Ein heroischer Napoleon ziert einen Kreisverkehr, Geschäfte gibt es keine, einen Gite d’etape auch nicht. Den und sogar einen Campingplatz soll es in Poule geben, aber das liegt drei Kilometer entfernt in der falschen Richtung. Also laufe ich weiter, erreiche den Col des Aillets und folge dem Weg, der jetzt wieder die weiß-roten Streifen der GR-Markierung und die Jakobsmuschel trägt. Ich halte Ausschau nach einer Zeltmöglichkeit, aber überall ist dichtes Unterholz und der Weg führt nur durch Wald. Als er wieder die Straße erreicht, finde ich einen etwas versteckten Grasfleck und beschließe nach kurzem Zögern, zu bleiben. Es ist fast halb acht. Beim Zeltaufbauen stürzen sich Fliegen und Zecken auf mich, aber ich lese sie (hoffentlich) alle ab.
Montag, 4. Juni
Gut geschlafen und bald aufgewacht. Ich frühstücke nicht, packe das Zelt zusammen und mache mich auf den Weg. Es geht mühsam, aber es geht. Der Weg ist teilweise sehr steinig, dann wieder von großen Pfützen unterbrochen. Kurz nach zehn erreiche ich den Col de Favar-dy. Dort mache ich mit dem letzten Brotstückchen Rast. Ich muss unbedingt einkaufen. Deshalb will ich nach St. Bonnet le Froncy. Da der Wanderweg und die Straße bis zur Abzweigung in den Ort parallel laufen, entschließe ich mich, die wenig befahrene Straße zu nehmen, um besser vorwärtszukommen. Kurz nach zwölf bin ich dann in St. Bonnet. Ich kaufe ein Baguette, trinke im Café neben der Bäckerei einen Café au Lait und schreibe einen Brief an Martina. Wie gut es tut, auf einem Stuhl zu sitzen. Kaum bin ich im Café, fängt es heftig zu regnen an. Bisher war der Tag wie auch der vorherige völlig trocken. Der Brief ist fertig, als es wieder aufhört. Es ist halb zwei, als ich den Ort, der schon seit 1200 Jahren Pfarrei ist, wieder verlasse. Jetzt geht es auf einer Nebenstraße aufwärts zum GR 7 zurück. Mit einem Mal ist es schwül geworden, aber ein leichter Wind bringt Kühlung. An der Kreuzung, an der ich den GR 7 wieder erreiche, laufe ich nach Karte, um zügiger voranzukommen. Entweder Asphalt, der mich heute nicht stört, sondern freut, weil es schneller geht als auf matschigen Wegen oder Geröllstrecken, oder Forststraße, auf der es sich auch gut laufen lässt.
Etwas stimmt mit dem linken Fuß nicht. Ich halte gerade noch rechtzeitig an, um eine Rötung davon abzuhalten, zur Blase zu
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