Laufend loslassen
alles, was Blasen verursachen könnte. Wir laufen zusammen bis Tramages weiter, wo wir einkaufen und auf dem Hauptplatz des Ortes auf einer Bank vor dem Tourismusbüro Rast machen. Kaum sitzen wir und haben Brot, Käse, Wurst, Oliven und Tomaten ausgebreitet, kommen drei Fahrradfahrer auf dem Jakobsweg. Sie stammen aus Bonn, einer von ihnen wird bald 70 und sie kommen gerade aus Taizé. Nach dem Ort trennen wir uns wieder. Bernhard geht schneller voraus, ich quäle mich mit schmerzender Hüfte und Schulter den Berg hinauf, immer wieder getröstet durch prachtvolle Ausblicke. Bernhard ist bald meinen Blicken entschwunden. Wenn es sein soll, sehen wir uns wieder. Am höchsten Punkt — ich mache gerade eine kurze Rast zum Verschnaufen - kommt ein Wandererpaar aus England, er Deutscher, und fragt mich, ob und wie weit ich den Jakobsweg gehe. „Bis zum Ende.“, sage ich.
Sie haben eine Landkarte und es stellt sich heraus, dass der Jakobsweg, dessen Beschilderung wir folgen, vom GR 76 abweicht. Deshalb also schon lange keine rot-weißen Markierungen mehr und nur das Muschelzeichen. Ich gehe weiter und nach einer längeren Zeit kommen mir eine Ordensschwester und ein Priester entgegen, die mich darauf aufmerksam machen, dass sie meinem Freund - sie meinen Bernhard - gesagt haben, dass in ihrem Kloster Pilger willkommen seien und Aufnahme fänden. Erst denke ich mir, dass es noch zu früh zum Schlussmachen sei, aber dann sehe ich am Ortseingang von Cenves, an einem Feldkreuz, Bernhard sitzen und Reisenotizen aufschreiben. Er hat auf mich gewartet und wir beschließen nach kurzem Für und Wider hier Schluss zu machen und in dem Kloster zu übernachten, auf das uns die Ordensschwester unterwegs hingewiesen hat.
Den ganzen Tag war es warm und trocken, sogar sonnig. Jetzt zieht plötzlich eine Regenwand aus dem Tal auf uns zu. Wir sind noch keine Minute im Kloster angekommen, da fängt es draußen an zu schütten. Jeder von uns bekommt ein Zimmer in der wohltuenden Schlichtheit einer Klosterzelle. Alles ist da, was man wirklich braucht, mehr nicht. Das passt zum Weg, wo stündlich an Gelenken und Muskeln, also unmittelbar zu spüren ist, dass Besitz auch Ballast ist. Ansonsten erinnert mich die Gestaltung der Räume - die kleine Gebetsecke, der grobe Sisalteppichboden, die rauverputzten Wände — an die Neumühle, ein ökumenisches Meditationszentrum im Saarland, das ich sehr schätze. Dort habe ich meine ersten Zen-Seshins bei Michael von Brück besucht und mit der Familie mehrmals die Weihnachtstage verbracht. Dort habe ich auch Kum Nye kennengelernt, ein tibetisches Heilyoga, das ich seit 23 Jahren praktiziere. Ich fühle mich wohl und bin dankbar für die Fügung. Der Orden nennt sich „Soeurs contemplatives de St. Jean.“. Die Nonnen des Konvents sind meist überraschend jung.
Wir nehmen an ihrem Abendgebet teil, mit einer wunderbaren langen Zeit tiefer Stille. Wie gut diese Ruhe tut! Mir fällt ein Bild ein, das ich einmal erzählt bekommen habe. Wenn es im eigenen Inneren Wirrheit gibt, Unklarheit, Sorgen oder Ängste, dann ist das wie in einem Tümpel, der aufgewühlt wurde. Dann ist nicht Tun angebracht, sondern Nicht-Tun, ruhen lassen, sich setzen lassen. Es dauert, doch so klärt sich das
Wasser des Tümpels von selbst. Dieses Sitzen in Stille hier, das ist Nicht-Tun in diesem Sinn.
Anschließend wird uns ein herrliches Abendessen serviert, mit Suppe, Auflauf, Käse, Salat und Joghurt zum Nachtisch. Dann bald ins Bett und lange geschlafen.
Samstag, 2. Juni
Etwa 10.30 Uhr Aufbruch. Kurz auf dem falschen Weg, aber ich habe meinen Bambus-Wanderstab, der in meinem Garten gewachsen ist, vergessen und kehre zum Kloster zurück. Von dort gehe ich zum letzten Muschelzeichen am Ortsrand zurück und finde den richtigen Weg. Wir beginnen gemeinsam. Aber bald läuft Bernhard schneller weiter. Ich spüre, es ist nicht gut für mich, wenn ich mich selbst antreibe, um mitzuhalten oder mir als Bremsklotz vorzukommen, wenn er sein Tempo reduziert. So läuft jeder seinen Rhythmus.
Der Weg ist mal feucht und grasig, dann wieder Asphalt. Auf einer solchen Asphaltstrecke verpasse ich einen Wegweiser und komme zu einer Kreuzung, an der weit und breit keine Jakobsmuschel zu sehen ist. Ich laufe bergab zurück, finde den Abzweig, steige auf einem nassen Grasweg wieder hügelaufwärts, um schließlich nur 50 Meter unterhalb meines Wendepunktes anzukommen. Eine halbe Stunde umsonst. Immerhin entschädigen eine Bank, ein
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