Laufend loslassen
Tisch und eine schöne Aussicht. Kurzer Stiefelcheck und Aufträgen der Blasenschutzcreme. Irgendetwas stimmt mit dem linken Schuh heute nicht. Ich binde ihn fester. Jetzt ist es besser. Bald passiere ich St. Jacques des Arrets, ein verschlafen wirkendes Städtchen. Gerade als ich in der Kirche eine kleine Stille einlege, schlägt die Turmuhr eins.
Heute sind die Schmerzen weniger. Ich fühle mich etwas besser als gestern. Vielleicht hat mir das lange Schlafen gutgetan. Ich sehe eine Landkarte auf einer Tafel. Der Jakobsweg ist nicht verzeichnet. Ich mache mir Vorstellungen, wie er verlaufen könnte. Er verläuft anders, wie ich später merke. Das muss ich noch lernen: Vorstellungen und Konzepte loslassen und ganz offen sein für das, was wirklich ist, sobald es da ist. Alles andere verschwendet Lebensenergie für eine Scheinsicherheit und schafft meist Sorgen oder falsche Hoffnungen und letztlich Enttäuschungen.
Um zwei Uhr brauche ich eine Rast. Links Hecke, in der Mitte Weg, rechts Hecke, und das auf einer langen Strecke. Ich wünsche mir eine schöne Rastmöglichkeit. Fünf Minuten später kommt sie.
Geschnitzte Stühle, ein kleiner, geschnitzter runder Tisch und sogar eine Jakobsmuschel. Hier mache ich halt. „Danke.“, sage ich innerlich. Fast eine Stunde mache ich Pause. Herrlich, nur zu sitzen, zu essen, ein paar Notizen zu machen. Auch die Schmerzen machen Pause.
Weiter geht es entlang eines Pfades, den immer wieder Holzskulpturen und - masken säumen, nach Ouroux. Brombeerhecken rechts und links, ganz dicht und nahe am Pfad.
Einmal hängt mein Rucksack an einer der stacheligen Ranken fest. Mit einem kräftigen Ruck bin ich wieder frei. Ich taste nach hinten und prüfe, ob die Jakobsmuschel noch da ist. Ich finde sie unversehrt.
Ouroux hat eine romanische Kirche mit interessanten Kapitellen auf runden Säulen, wo ich flir kurze Zeit innehalte. Ein kurzes Gebet für das Gelingen der Pilgerreise und für alle, die unterwegs sind, vor allem für Bernhard. Danach steigt der Weg an, hier der GR 76 A, und erreicht schließlich den Col de Crie. Obwohl ich schon mehr als sieben Stunden unterwegs bin, zeigt sich keinerlei Übernachtungsmöglichkeit. Ich wünsche mir eine zur rechten Zeit. Mit dem Col de Crie ist sie da. Es ist inzwischen halb sieben abends. Ein Haus für touristische Informationen, daneben ein Gite d’etape. Leider zu. Aber die Sanitäranlagen sind nutzbar. Viele Picknicktische. Neben einem, gerade schon im Wald, baue ich mein Zelt auf. Nachts ist noch ein Gewitter zu hören, aber mich erreichen nur die äußersten Ausläufer und ein paar Tropfen. Ansonsten eine ruhige, aber kalte Nacht. Ich merke, dass meine Ausrüstung zum Schlafen nicht richtig auf Kälte eingerichtet ist. Ich helfe mir mit zwei Pullovern und zwei Hosen im Schlafsack.
Sonntag, 3. Juni
Am Morgen kommt mein selbst gebasteltes Esbit-Kocher-Patent aus einer alten Erdnussdose zum Einsatz. Glücklicherweise braucht mein grüner Tee kein kochendes Wasser. Immerhin etwas Warmes. Ich habe nur noch wenig Brot, dafür noch genug Käse. Also fällt mein Frühstück etwas knapp aus. Aber ich habe auch nicht viel Hunger, was mich angesichts der Anstrengungen erstaunt. Nach dem Packen mache ich noch ein paar Notizen. Ich will bis halb elf warten, da öffnet die Tourist-Information. Ich möchte einen Stempel und vielleicht etwas von den regionalen Produkten, die sie verkaufen. Denn wo kriege ich sonst etwas zu essen her? Immerhin ist heute Sonntag. Ich studiere die Karte, ab hier habe ich endlich eine genaue.
Die Information öffnet kurz vor 10.30 Uhr. Ich bekomme meinen Stempel und frage, ob sie Brot verkaufen. Ich werde auf Monsols verwiesen, mindestens fünf Kilometer weg von der Richtung. Nichtwanderer denken in Autoentfernungen, fällt mir auf. Trops loin. Zu weit. Als ich draußen meinen Rucksack schultere, kommt die Dame aus der Information und bringt mir zwei dicke Scheiben Brot, sorgfältig in Papier gepackt. Merci beaucoup, der Tag ist gerettet.
Der Weg steigt meist an, fast immer durch Wald, eine Zeit lang mächtige alte Maronenbäume. Irgendwann kommt mir eine Herde Quads und Enduro-Motorräder entgegen. Der Auspuffgestank verzieht sich schnell. Einmal überholt mich ein Mountainbikefahrer. Sonst ist Ruhe, ab und zu aus dem Tal die Kirchenglocken. Nach zwei Stunden lege ich eine Verschnaufpause ein. Der Mont St. Rigaud ist unmittelbar vor mir, der Fernwanderweg GR 7 ist erreicht. Abschied vom GR 76, doch die
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