Laufend loslassen
werden. Es helfen Blasenschutzcreme und gute Socken. Obwohl ich noch zwei Stunden weiterlaufe und die Schuhe nass vom Schwitzen sind, ist am Abend die Rötung zurückgegangen.
Heute komme ich gut voran und freue mich. Jetzt wird es für mich realistischer, Santiago zu erreichen. Eine Reihe von Pässen und Wegkreuzen werden passiert, ich gewöhne mir an, an jedem Wegkreuz - und davon gibt es viele unterwegs - ein Vaterunser lang Pause zu machen. Ein wenig wundere ich mich über mich selbst. Als spirituell interessiert, ja sogar als religiös hätte ich mich auch vor dem Jakobsweg bezeichnet, aber absolut nicht als fromm. Jetzt merke ich, wie ich mit einer gewissen Selbstverständlichkeit Formen der Frömmigkeit nutze und in ihrer Wirkung auf mich erprobe, die sonst eher ungeübt geblieben sind. Meditation war seit Langem mein Weg, Gebet doch eher selten. Ich weiß, ich will auf dem Weg auch Neues ausprobieren. Heute ist auch das Mantra „Toi, tu nous aimes..“ wieder dran. Ich rezitiere es innerlich und summe dazu.
In der Ferne Gewitter, aber ich bleibe davon verschont. Ich erreiche den Col de la Croix de Fourches. Das Gewitter kommt näher. Ich sehe die Blitze, zähle die Zeit bis zum Donner und rechne. Dreieinhalb Kilometer höchstens. Jetzt wird es Zeit, einen trockenen Platz zu finden. Ich habe mir, sobald es nötig wird, eine Unterstellmöglichkeit gewünscht und einen geeigneten Schlafplatz zur rechten Zeit. Ich möchte darauf vertrauen lernen, dass ich geführt und behütet werde auf dem Pilgerweg und dieses Behütetsein auch erbitten. Plötzlich stehe ich vor einem riesigen Holzkreuz zwischen hohen Fichten. Hier ist der Platz, wird mir klar. Es fallen ein paar Tropfen. Das Gewitter zieht vorbei. Die paar Tropfen bleiben die einzigen. Zwei Baumstämme dienen als Tisch und Bank, ich esse von meinem Baguette, dazu gibt es Camembert. Ich habe erstaunlich wenig Hunger für die Anstrengung. Heute habe ich sogar noch Lust zu lesen, hole P. Anselm Grüns Buch der Lebenskunst hervor und lese ein paar Abschnitte. Im Ganzen ein gelungener Tag, stelle ich frohen Herzens fest.
Dienstag, 5. Juni
In der Nacht kam das Gewitter dann doch noch mit voller Wucht - oder genauer: Es waren zwei.
Es schüttete aus Eimern und die Blitzschläge kamen bedrohlich nahe. Der naheste Blitzeinschlag in 150 Metern Entfernung. Das Zelt hielt sich wacker, aber dann hat es doch kapituliert. Das Handtuch musste her, um das eindringende Wasser aufzusaugen. Ich habe erst spät geschlafen. Beim Aufwachen kurz nach acht war alles kalt und klamm, draußen dichter Nebel, der an den Bäumen ums Zelt kondensierte und so einen Dauerregen vortäuschte, den es auf der Lichtung nicht gab. Da draußen alles tropfnass ist, versuche ich den Rucksack in dem niedrigen Zelt zu packen, was entsprechend lange dauert. Es ist halb elf, als ich schließlich aufbreche. Der Col de Pilon ist nach einer halben Stunde erreicht. Aber es geht eher mühsam heute. Da es nirgends einen trockenen Platz gibt, laufe ich weiter. Der rechte Fuß tut weh, ich binde den Schuh lockerer, dann wird es besser. Unterwegs treffe ich auf eine Jugendgruppe oder kleine Schulklasse, die neben mir auf ein paar feuchten Baumstämmen Picknick macht. Bei mir sind mein altes Baguette und der Rest des Camemberts dran. Es wird Zeit, dass wieder eine Einkaufsmöglichkeit kommt. Ich habe Lust auf etwas Süßes, dauernd denke ich an Honig oder Marmelade. Die Wege sind an vielen Stellen von großen Pfützen unterbrochen. Wenn nicht gerade Steine den Hauptbelag bilden, sind sie völlig aufgeweicht. Aber Steine sind häufig. Ich erinnere mich an das holprige Pflaster auf dem Domplatz in Bamberg, entlang der Neuen Residenz zwischen Staatsbibliothek und Bushaltestelle, das schon manchen Touristen zu Fall gebracht hat. Es ist ein Genuss, dort übers Pflaster zu laufen, im Vergleich.
Um zwei Uhr ist Les Savages erreicht, ein kleiner Ort mit einer Kirche aus dem 13. Jahrhundert. Er wirkt verschlafen, aber die Mairie ist offen und ich hole mir den Stempel für den Pilgerpass, fülle gleich daneben meine völlig leere Wasserflasche wieder mit anderthalb Litern und gehe zum Café am Ortsrand, wo ich mir wieder Café au Lait genehmige. Während ich an einem kleinen Tischchen draußen sitze, steigt das elektronische Thermometer von 22 auf 24 Grad. Ich betrachte den Himmel und beurteile die Lage. Heute sieht es nicht nach Regen aus, finde ich.
Was mir beim Laufen heute aufgefallen ist: Es tauchen
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